Boermel-Ernst in Frankfurt: Vor 120 Jahren gründeten ein Kneipp-Bademeister und eine Masseurin einen Laden für Pflanzenbutter und Gesundheitsschuhe in Frankfurt. Der soll auch heute ein Tante-Emma-Laden sein – aber ohne Staub.

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Es dauert nicht lange, da sagen die drei Geschwister Sätze, denen Robert Boermel mit Sicherheit zugestimmt hätte. Und Marie Ernst auch. Auch wenn die beiden dieses besondere Reformhaus mitten in Frankfurt vor 120 Jahren geführt haben, während die drei Geschwister das heute tun.

Die Sätze von Stefanie Neininger, Christian Herrmann und Philipp Sommerfeld lauten: Wenn ein Kunde schlecht schläft, geht es nicht darum, ihm ein Mittel zu verkaufen. Sondern ganzheitlich zu schauen, woran es liegt. Oder: Wir wollen nicht so wirtschaften, dass es den Gewinn maximiert. Sondern schauen, wo und unter welchen Bedingungen die Ware produziert wird. Das Gründerpaar des Reformhauses Boermel-Ernst hätte vielleicht sogar diese Aussage der heutigen Inhaber unterschrieben: Wir wollen weg von Verboten, etwa bei Fleisch und Alkohol. Der Genuss darf nicht vernachlässigt werden.

Marie Boermel war Masseurin, Robert Boermel Kneipp-Bademeister. Bevor die beiden beschlossen, zu heiraten und ein Reformhaus zu eröffnen, arbeiteten sie in einem Sanatorium zwischen Spessart und Vogelsberg. Das Geschäft öffnete dann 1904 am Theaterplatz, dem heutigen Willy-Brandt-Platz. Wenige Jahre später zog es an die Schillerstraße. Es war der erste Laden seiner Art in Frankfurt und einer der ersten in Deutschland. Für 2021 nennt die Reformhaus-Genossenschaft mit Sitz in Zarrentin in Mecklenburg-Vorpommern die Zahl von 780 Reformhäusern. Dass Boermel-Ernst 120 Jahre überdauert hat, sogar unter dem ursprünglichen Namen, ist alles andere als selbstverständlich. Noch vor 20 Jahren war die Zahl der Reformhäuser fast doppelt so hoch wie heute. Aber viele mussten schließen. Auch das Bad Homburger Unternehmen Liwell, zu dem das Reformhaus an der Schillerstraße seit 2021 gehört, hat im Mai ein anderes Frankfurter Reformhaus an der Braubachstraße zugemacht – zu wenige Kunden, anderes Kaufverhalten nach Corona. Um das Traditionshaus Boermel-Ernst macht sich Liwell indes keine Sorgen. Mit 40 Filialen ist das Unternehmen, geführt von Reiner Herrmann, dem Vater der Geschwister, zugleich ein Beispiel für den Konzentrationsprozess auf dem Reform-Markt. Liwell hat in Frankfurt kürzlich auch die Freya-Reformhäuser übernommen.

In den Regalen finden sich viele Marken, die schon die Kunden früherer Jahrzehnte kauften: Vitam-R, Eden, Schoenenberger, Rabenhorst. Aus der Kindheit erinnern sich die Geschwister an Molat – wobei sie geteilter Meinung sind, ob das Kräftigungsmittel aus Weizenkeimen und Milchzucker großartig oder abscheulich schmeckt. Christian Herrmann entdeckt, dass die Mitarbeiter unter Teamleiterin Jennifer Mainz auch ein ganz neues Produkt im Angebot haben: die Reformhaus-Eigenmarke für Manuka-Honig von der neuseeländischen Südseemyrte. Der teure Spezialhonig ist bei Reformhauskunden beliebt. Auch dazu sagt Stefanie Neininger etwas, das auch von Reformbewegten früherer Zeiten hätte kommen können: Neulich habe sie eine Nebenhöhlenentzündung mit dem Honig in den Griff bekommen. Ohne Schulmedizin.

Überall hängen Wimpel mit Informationen zu den Jubiläumsangeboten im September. Im Fenster prangt eine 120. Am Eingang steht eine Theke mit Dinkel-Kürbis-Curry-Quiche, Cashew-Kräckern und Salat. Die Tagessuppe verkündet das laut Neininger einzige Frankfurter Reformhaus mit Instagram-Account morgens online. Damit alle, die ihre Mittagspause bei Boermel-Ernst verbringen, Bescheid wissen. Sie sitzen dann vor dem Laden oder im Hinterstübchen neben der Salzkristall-Lampe. Viele kämen auch gezielt für eine bestimmte Naturkosmetik, ein Nahrungsergänzungsmittel, Produkte für Allergiker.

Ausführlicher berichten die drei an einem Tisch im kleineren Verkaufsraum im Untergeschoss. Alle haben beim Vater angefangen, als Aushilfe und Werkstudent in Bad Homburg an der Louisenstraße, als Filialleitung im Main-Taunus-Zentrum. Herrmann, 36, kümmert sich im Unternehmen um EDV und Personal, Sommerfeld, 29, ist für Einkauf und Investitionen zuständig. Neininger, 39, übernimmt das Marketing und die Unternehmensentwicklung und ist auch im Aufsichtsrat der Reformhaus-Genossenschaft. Sie will dafür sorgen, "dass es auch in weiteren 125 Jahren noch Reformhäuser gibt". Dafür spreche, dass es mehr als eine Einkaufsstätte sei, verbunden mit Werten und innerer Haltung. Der persönliche Kontakt zum Kunden sei zentral, gerade in Zeiten von immer mehr Selbstbedienungskassen mit Scannern.

An den Wänden stehen Regale mit Gesundheitsschuhen. Die frühere Inhaberin Simone Hepp, von der Liwell das Haus übernommen hat, betreibe weiterhin einen Birkenstock-Laden. In den Anfängen der Reformgeschäfte war Kleidung als Warengruppe fast wichtiger als die Lebensmittel wie unpolierter Reis, Hafergrieß und Pflanzenbutter. Bei Boermel-Ernst kam die Bekleidung aus der Leipziger Reformwarenfabrik Thalysia. Auch das Reformhaus trug anfangs die griechische Getreidegöttin im Logo.

Die Geschwister planen, das Zeichen weiterzuverwenden, wenn das Haus 2025 modernisiert wird. Aus alten Fotos könnte eine Wandgalerie entstehen. Neininger hat die Abzüge auf dem Tisch ausgebreitet: Bilder vom Gründerpaar, aber auch Motive aus der Anfangszeit der Selbstbedienung in den Sechzigerjahren. Simone Hepp ist die Urenkelin von Boermel und Ernst, vor ihr führten ihre Eltern und Großeltern das Geschäft.

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Die heutigen Inhaber wollen den Charakter eines Tante-Emma-Ladens erhalten, bloß ohne das Verstaubte daran. Die Kasse mit den Holzschubladen, einst für Kümmel, Kamille und Johanniskraut genutzt, soll auch nach dem Umbau bleiben. Ob auch der Unternehmensname Liwell draußen am Laden stehen soll, ist noch nicht entschieden. In dem Kunstwort soll alles rund um Leben, Lifestyle und Wellness schillern. Sicher ist jedenfalls: Selbst wenn der Schriftzug zusätzlich angebracht wird, bleibt das Reformhaus Boermel-Ernst das Reformhaus Boermel-Ernst.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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