Mathildenhöhe: Der Countdown läuft: Mit "4-3-2-1- Darmstadt" eröffnet das Ausstellungsgebäude auf der Mathildenhöhe nach zwölf Jahren Sanierung. Gezeigt wird, was die Städtische Kunstsammlung an Schätzen und Geschichten bereithält.

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Betritt man die Ausstellungshalle der Darmstädter Mathildenhöhe, stößt man zuerst auf das einem Wohnraum nachempfundene Kabinett, das dem Verleger und Publizisten Alexander Koch gewidmet ist. Seine Wohnung an der Darmstädter Annastraße 23 hatte er in den Jahren 1901 und 1902 von Patriz Huber, einem Mitglied der Künstlerkolonie, gestalten lassen. Den von Huber entworfenen Salonflügel aus Kirschbaumholz kann man in der Ausstellung noch sehen. Ebenso ein Ölbild von Max Pechstein, weil sich Koch in seinem später an der Annastraße erbauten Haus, in dem er bis zu seinem Tod 1938 wohnte, auch mit expressionistischen Gemälden umgab.

Warum mit ihm die große Eröffnungsschau "4-3-2-1 Darmstadt" der aufwendig sanierten Ausstellungshalle beginnt? Dem Kunstfreund hat Darmstadt sehr viel zu verdanken. Mit seiner 1898 verfassten öffentlichen "Denkschrift" an Großherzog Ernst Ludwig gab Koch den Impuls für die Gründung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe.

Zu ihrem Ensemble gehört neben Wohnhäusern, Ateliers und dem Hochzeitsturm auch das von Joseph Maria Olbrich geplante und 1908 fertiggestellte Ausstellungsgebäude, in dem von Anfang an vor allem zeitgenössische Kunst gezeigt wurde. Vor zwölf Jahren wurde es für umfangreiche Sanierungsarbeiten geschlossen, die Kosten beliefen sich am Ende auf mehr als 30 Millionen Euro. Jetzt erhalten die Darmstädter ihr Jugendstil-Ausstellungsgebäude endlich zurück. Mit einer Ausstellung, die der Direktor des Instituts Mathildenhöhe, Philipp Gutbrod, auch als Dankeschön verstanden wissen will. An die Stadt und die Bürger, die er mit einem umfassenden Blick in die Städtische Kunstsammlung für das Warten belohnen möchte.

Schon 40 Jahre ist es her, dass die Städtische Kunstsammlung präsentiert worden ist. Normalerweise schlummern ihre 30.000 Exponate im Lager. Vor einem Jahr ist das Depot von Dieburg nach Darmstadt umgezogen, wo die Restaurierung von rund der Hälfte aller jetzt ausgestellten Werke erheblich einfacher gewesen sei als am alten Standort, wie Gutbrod sagt. Rund 400 Gemälde, Skulpturen, Grafiken, Fotografien und Videokunst haben er und die Ko-Kuratorin Sandra Bornemann-Quecke ausgewählt, um an Ereignisse zu erinnern und Persönlichkeiten vorzustellen, die für das Kunstleben in Darmstadt wichtig waren, unter ihnen etwa Carlo Mierendorff, der von 1919 bis 1921 im Verlag der Dachstube die Zeitschrift "Das Tribunal" herausgab, sowie Carl Gunschmann und Kasimir Edschmid, die 1919 die Darmstädter Sezession gründeten.

So werden in der Ausstellung vor allem Geschichten erzählt. Von Künstlerinnen und Künstlern, die in den vergangenen 200 Jahren in der Stadt gelebt haben, die durch ihre Straßen flaniert sind, sich von ihrer Umgebung haben inspirieren lassen. Weshalb jedes Werk und jeder der 120 Kunstschaffenden in Darmstadt verortet werden soll, wie Gutbrod sagt. Dazu hat er Fragmente des Stadtplans auf den Boden des Ausstellungsgebäudes kleben lassen, finden sich historische Stadtpläne an den farbig bunten Wänden. Die Anatomie der Stadt wird zum Kompass für einen bunten Gang durch die Kunstgeschichte.

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So wandelt man als Ausstellungsbesucher durch die Straßen Darmstadts, trifft auf verwinkelte Gassen der 1944 in der Brandnacht zerstörten Altstadt, deren Gebäude, Plätze und Straßen in Kunstwerken fortbestehen. Und man trifft auf Weite, wenn die Stadt endet. Entlang der Bergstraße zum Beispiel wanderten schon die Romantiker. Der Odenwald mit Felsformationen und Ruinen inspirierte die jungen Künstler. Landschaften von Johann Heinrich Schilbach und August Lucas bezeugen eine tief empfundene Begeisterung für die Natur. Annegret Soltaus Fotografien ihrer Performance in den Achtzigerjahren, die sie nackt "Im Felsenmeer II" zeigen, spinnen den Faden bis in die jüngere Vergangenheit weiter.

Eberstadt, der südlichste Darmstädter Stadtteil, besticht bis heute durch seine Streuobstwiesen und Sanddünen, wie sie Franz Best in den Fünfzigern gemalt hat. Dass auf der Marienhöhe 1911 für Elizabeth Duncan, Schwester von Isadora Duncan und ebenfalls Tänzerin, unter Großherzog Ernst Ludwig eine Tanzschule eröffnet wurde, erfährt man ebenso wie die Tatsache, dass die Tänzerin Olga Breling, die Bernhard Hoetgers Büste als "Lächelnde Olga" (1911) verewigt, hier den Grundstein für ihre Karriere legte. Ebenfalls im Süden Darmstadts befindet sich das Böllenfalltor mit dem Stadion. Das Logo der "Lilien" entwarf der Grafiker Hartmuth Pfeil für den Fußballclub. Sein Nachlass ist Teil der Städtischen Kunstsammlung, darunter humorvolle Skizzen von Spielern, die er im Stadion zeichnete.

Auch für den "Datterich", die von Ernst Elias Niebergall 1841 erdachte Figur, entwarf Pfeil Bühnenbilder. Dem "Datterich" ist in der Ausstellung eine kleine Nische gewidmet, mit Gemälden und einem Schild der Datterich-Klause, die bis 1993 ein beliebter Treffpunkt war. In Bessungen schließlich hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Anna Beyer und Anna Bornemann ihre Ateliers – Künstlerinnen, die es wiederzuentdecken gilt. Andere Schätze der Sammlung müssen hingegen nur wieder ins Licht gerückt werden, wie die Zeichnungen des Expressionisten Ludwig Meidner, der als orthodoxer Jude Anfang der Fünfzigerjahre aus dem Londoner Exil zurückkehrte und 1963 mithilfe seines Freundes Kasimir Edschmid eine Wohnung fand. In Darmstadt blieb er bis zu seinem Tod 1966, wo er auf dem Jüdischen Friedhof in Bessungen seine letzte Ruhestätte fand. Seine Frau, die Künstlerin Else Meidner, wollte nicht wieder zurück nach Deutschland ziehen. Doch das ist nur eine von vielen Geschichten, die man bei diesem Rundgang durch die Stadt und ihre Fülle an Kunst erfährt.

4-3-2-1 Darmstadt 21. September bis 27. April 2025, Ausstellungsgebäude Mathildenhöhe Darmstadt.   © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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