Ausstellung in Frankfurt: Das Historische Museum Frankfurt widmet sich der Zeitzeugenschaft – und beleuchtet dabei, wie sich die Form der erzählten Geschichte entwickelt hat.

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Ein Schwerpunkt ist die Erinnerung an den Holocaust, aber die Beispiele reichen bis in die Gegenwart.

Edgar Sarton-Saretzki denkt an den 10. November 1938 zurück, den Tag, an dem auch in Frankfurt Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört wurden. Vom Philanthropin, der jüdischen Schule, sei er zur brennenden Hauptsynagoge gelaufen, erzählt er in der Videoaufnahme aus dem Jahr 1997. Sein Vater sei mit geretteten Gebetbüchern und Talaren aus der Brandruine gekommen. Da habe ein Mann aus der Menschenmenge gesagt: "Ei, jetzt brennt em Rebbe sei Rock." Sarton-Saretzki spricht den Satz fast sechs Jahrzehnte später im weichen Frankfurter Dialekt und in einer Art, wie man eine scherzhafte Anekdote erzählt. Humor ist gar nicht so selten, wenn sich Opfer an den Horror des Naziregimes erinnern. Der Witz erzeugt Distanz zum Schmerz, er schützt vor dem Trauma.

Die knapp zweiminütige Videosequenz aus dem Bestand des Fritz-Bauer-Instituts gehört zu einer Reihe von Zeitzeugeninterviews, die nun im Historischen Museum zu sehen sind und ihrerseits in eine Ausstellung zum Thema Zeitzeugenschaft eingebettet sind, die am Mittwochabend eröffnet wurde und bis zum 4. Mai 2025 zu sehen ist. Man versteht den Aufbau besser, wenn sich vergegenwärtigt, dass es sich im Grunde um drei Ausstellungen handelt, die in einem Dialog zueinander stehen.

Gewissermaßen den Rahmen bildet die Wanderschau "Ende der Zeitzeugenschaft?", die vom Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg erarbeitet wurde. Sie zeichnet historisch-chronologisch nach, wie Überlebende der NS-Verbrechen seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute über das Erlebte in Büchern, Ton- und Videoaufnahmen berichten und in welchem Wechselverhältnis diese Form des Erzählens und der Geschichtsschreibung zur gesellschaftlichen Entwicklung steht.

<span style="tab-stops:51.35pt">Ein Gegengewicht zur Geschichtsschreibung der Herrschenden</span>

Das zweite Element der Ausstellung, zu dem unter anderem die Zeitzeugeninterviews aus dem Archiv des Fritz-Bauer-Instituts und des Historischen Museums gehören, füllt den von der Wanderausstellung vorgegebenen Rahmen mit Beispielen aus Frankfurt aus. Das dritte Element ist das Ergebnis eines Stadtlabors, wie es im Historischen Museum als partizipative Komponente von Ausstellungen etabliert ist. 25 Frankfurter Bürger haben sich daran beteiligt, haben sich mit Fragen nach dem Wesen und der Bedeutung der Zeitzeugenschaft beschäftigt. Daraus sind elf Ausstellungsbeiträge entstanden, die sich mit Themen wie Migration, Aids-Aktivismus, persönlichen Erinnerungen, Kindererziehung oder Queerness beschäftigen.

Das Historische Museum arbeite schon seit den Siebzigerjahren mit Berichten von Zeitzeugen, sagt die kommissarische Leiterin Susanne Gesser. Die oft mündlich tradierten Geschichten bildeten ein Gegengewicht zur Geschichtsschreibung der Herrschenden. Ihnen Gehör zur verschaffen gehöre zur "emanzipatorischen Ausrichtung" des Hauses. In dieser Tradition stehe auch das künstlerische Erinnerungsprojekt "Bibliothek der Generationen", das es seit mittlerweile 25 Jahren im Museum gibt und das nun auch ein Ausgangspunkt für die aktuelle Ausstellung gewesen sei.

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Mit-Kuratorin Angela Jannelli sieht in den beiden lokalen Beiträgen eine Art Erwiderung auf die Ausgangsfrage der Hohenemser Wanderausstellung nach dem "Ende der Zeitzeugenschaft". Wie lebendig die Form des Erzählens ist, zeigt sich im Stadtlabor zum Beispiel an den Erinnerungen Oksana Kucherenkos an den Einmarsch Russlands in die Ukraine. Auch wenn der Krieg und der Schrecken, den sie erlebt habe, noch Gegenwart sei, definiere sie sich selbst als Zeitzeugin – "weil ich das Bedürfnis verspüre, das in die ganze Welt hinauszuschreien".  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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