Änderungen im Alltag: Plötzlich heißt die S-Bahn-Linie neu, die Lieblingsmarke hat ein anderes Design, und die Milch im Supermarkt steht zwei Regale weiter. Wie umgehen mit diesem Störgefühl?
S3 Bad Soden, S 4 Kronberg. Das waren die Leuchtbuchstaben, orange auf dunklem Grund, abwechselnd im Viertelstundentakt, die uns damals den Weg in die Freiheit wiesen. Lange bevor sich die Gesetzesschranken hoben, weil wir irgendwann endlich 18 waren und einen Führerschein hatten, lange bevor wir bei unseren Eltern ausgezogen waren, lange bevor wir verstanden, dass Frankfurt im Vergleich zu internationalen Metropolen eher kleinstädtischer Natur ist, lange bevor es die ausgewachsene Sehnsucht gab nach weniger Trubel und mehr Grün.
Damals hatten wir nur die Sehnsucht nach dem Ältersein und das Transportmittel, das einen aus der ruhigen Vorstadt im Süden in die Simulation eines erwachsenen Lebens katapultierte, weil die Straßen in Frankfurt breiter und die Häuser zigfach höher waren und wir in zwei Zara-Filialen einkaufen konnten – dieses Transportmittel war die S 3 nach Bad Soden. Oder die S 4 nach Kronberg.
Damit ist nun Schluss. Zum 15. Dezember ändert sich der RMV-Fahrplan. Die S 3 und die S 4 gibt es dann nicht mehr, zumindest nicht mehr südlich von Frankfurt. Beide fahren zwar in Richtung Norden weiter zu den gleichen Endhaltestellen, umgekehrt aber nur noch bis Frankfurt-Süd. Dafür fährt nun die S 6 im Viertelstundentakt abwechselnd nach Langen und nach Darmstadt, und Richtung Frankfurt heißt es fortan: S 6 nach Groß-Karben. Oder S 6 nach Friedberg.
Veränderung bringt auch ein Störgefühl
Und das ändert alles. Die S 6, die nahmen wir früher höchstens, um aus der Innenstadt nach Frankfurt-Süd zu fahren, um an der frischen Luft auf die S 3 oder die S 4 nach Hause zu warten. S 6 nach Groß-Karben oder Friedberg, das klingt falsch, ungewohnt, das löst ein Störgefühl aus. Obwohl man längst erwachsen ist und die eigene gefühlte Freiheit schon länger nicht mehr an S-Bahn-Linien hängt, sondern zum Beispiel an der Entscheidung, ob man das Diensthandy im Urlaub ignoriert oder nicht.
Es ist das gleiche Störgefühl, das einen überkommt, wenn der Supermarkt mal wieder umgeräumt hat und man kurz vor Ladenschuss gehetzt zwischen den anderen Gehetzten nach der neuen Ecke mit der Milch sucht. Oder wenn das Lieblingspuder plötzlich in einer Dose mit völlig anderem Design verkauft wird. Oder wenn alle Apps auf dem Handy nach einem Betriebssystemupdate angeblich moderner, aber schlicht seltsam aussehen. Man stöhnt innerlich: Was soll das?
Langjährige Freunde des britischen Autoherstellers Jaguar dürften in diesen Wochen mit einem ziemlich großen Störgefühl zu kämpfen haben. Bei Jaguar ist nichts mehr, wie es war, das neue Logo wird in den sozialen Medien mit dem einer Kondommarke verglichen. Bis Ende 2025 liefert Jaguar gar keine Autos mehr, und danach gibt es nur noch elektrische Fahrzeuge. Der "Type 00", der jüngst in Pink und Blau vorgestellt wurde, ist so schnörkellos geschnitten, dass er an ein Spielzeugauto erinnert. Was soll das?
Und wenn der Wechsel nun nicht gefällt?
Manche Änderungen sind so wuchtig, dass man sie lieber bis heute ignoriert. Manch einer nennt die Plattform X weiter Twitter, wieso auch nicht? Ein älterer Kollege sagt zu Twix noch heute Raider, umbenannt wurde der Schokoriegel in Deutschland und anderen europäischen Ländern im Jahr 1991. Und die Einführung des Euros vor fast 23 Jahren hat nicht verhindert, dass manch einer heute noch in D-Mark rechnet.
Und jetzt trifft es die S 3 und die S 4. Nicht dass man je dort gewesen wäre, in Bad Soden oder Kronberg. Wir stiegen an der Hauptwache aus oder an der Konstablerwache. Die Freiheit, das vermeintliche Erwachsensein, all das war natürlich trotzdem begrenzt, wenn auch von der S 3 und der S 4. Damals fuhren die Bahnen an den Wochenenden nachts noch nicht im Stundentakt. Waren wir spätabends in der großen Stadt unterwegs, mussten wir uns entscheiden. Nehmen wir die letzte oder die erste Bahn? Oder vielleicht doch den Nachtbus über Neu-Isenburg? Da saß man dann zwar stundenlang drin, aber wenigstens im Warmen.
Wer eigene Gewohnheiten ändern will, dem wird empfohlen, das bewusst in kleinen Schritten anzugehen. Wie aber soll das gehen, wenn einem ein riesiger Schritt von außen aufgezwungen wird? Wenn einem das Vertraute einfach weggenommen wird, die S 3, die S 4, Twitter, Raider, die D-Mark, ein "richtiger" Jaguar? Was bringt das Störgefühl zum Schweigen?
Vielleicht zunächst die sehr rationale Erkenntnis, dass es auch diejenigen Mut kostet, die für solche Änderungen verantwortlich sind. Natürlich erhoffen sich Unternehmen oder die Politik dadurch Besserungen. Aber den "Entscheidern" ist in der Regel auch klar, dass sie dadurch bei einer potentiell großen Menge an Menschen Reaktanz auslösen. Und dass der Schuss nach hinten losgehen kann, dass man sich zwar der Aufmerksamkeit sicher sein mag wie nun Jaguar, der Mut aber nicht unbedingt belohnt wird.
"Neu" ist nicht gleich schlechter
Dem Störgefühl zum S-Bahn-Netz darf man dennoch mit Entschiedenheit entgegentreten: Wenn sich nun mit der S 3 und der S 4 alles ändert, ändert sich streng genommen wenig zum Schlechteren. Die "neue" S 6 fährt im Süden genauso viertelstündlich los wie die S 3 oder die S 4 bislang, nicht einmal die Abfahrtszeiten ändern sich. Und im Norden der Stadt dürfen sich Pendler zwischen Bad Vilbel und Frankfurt durch zwei neue eigene Gleise für die S 6 auf einen einheitlichen Fünfzehnminutentakt freuen. Diese Gleise verbessern laut RMV auch die Regionalanbindung ins Umland. In Frankfurt-Ginnheim gibt es außerdem eine neue S-Bahn-Station. Und durch die Umstellung können demnach auf der "neuen" S-Bahn-Linie 4 während der Hauptverkehrszeiten längere Züge eingesetzt werden.
Dass der Abschied von der S 3 und der S 4 dennoch schmerzt, vielleicht auch den RMV, interpretieren wir einfach mal rein in die Worte von Geschäftsführer Knut Ringat, es handele sich um "die größte Änderung im S-Bahn-Liniennetz im RMV seit mehr als 20 Jahren". Aber helfen dürfte da dem ein oder anderen Pendler auch diese Erkenntnis: Weder die S 3 noch die S 4 noch sonst eine Linie gab es schon immer. 2003 wurden etwa die S 1 nach Rödermark-Ober-Roden und die Linie S 2 nach Dietzenbach verlängert. Einige Züge der S 8 wurden 1999 in die S 9 umbenannt und nach Wiesbaden verlängert. Und vor 1997 fuhren weder die S 4 nach Langen noch die S 3 nach Darmstadt. Die Änderung zum 15. Dezember ist nur die Bestätigung, dass nichts bleibt, wie es ist.
Die Erkenntnis, älter geworden zu sein, hat vielleicht auch damit zu tun, den Irrtum der Unumstößlichkeit des Alltags zu beerdigen. Wie wäre es am Ende dieses Jahres mit dem Vorsatz, jene Störgefühle als Abschiedsschmerz zu adeln, egal wie klein die Sache, um die es geht, egal wie unwichtig sie für andere zu sein scheint? Wenn die S 3 am Sonntag um 00.42 Uhr das letzte Mal in der Vorstadt hält, der wir als Jugendliche so gerne entfliehen wollten, dann endet eine persönliche Ära. Aber eben nur eine. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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