Tram-EM 2024: Die Frankfurter Gastgeber können sich mit der Begeisterung des Publikums trösten, im Titelkampf spielen sie keine Rolle. Aber darauf kommt es bei der EM der Straßenbahnfahrer gar nicht an.

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Mit einer sanften Bewegung am sogenannten Sollwertgeber stellt Jennifer Gebel die Bremsstärke ein. Wenige Sekunden später stoppt die Straßenbahn vor der Schranke auf dem Willy-Brandt-Platz, aber die kommt ein paar Meter zu früh zum Stehen. Das bedeutet null von 500 möglichen Punkten für das Team der Verkehrsgesellschaft Frankfurt (VGF) bei der Europameisterschaft der Tramfahrer, die am Samstag mitten in Frankfurt ausgetragen wird.

Nach sechs Disziplinen auf dem rund 170 Meter langen Parcours stehen nur 700 von 3000 Punkten für die Frankfurter auf der Anzeigetafel. Der Zeitbonus bringt ihnen weitere 200 Zähler ein. Zwar haben sie an diesem Samstagvormittag erst den ersten von zwei Läufen absolviert, doch um Gold werden Gebel und Benedikt Pfaff mit 900 Punkten nicht mehr fahren, das scheint jetzt schon klar zu sein.

Tatsächlich geht das Rennen auch so aus, die Gastgeber können den Vorteil, dass sie mit den Fahrzeugen am besten vertraut sind, nicht nutzen. Den Titel als Europas beste Fahrer holen sich die Straßenbahnfahrer aus Budapest. Für das Duo des Gastgebers VGF reicht es nur zu Rang 16, Mittelfeld unter den 26 Teams. Der weitaus größere Erfolg für die Frankfurter: Die kuriose Meisterschaft hat scharenweise Publikum angezogen, Jung und Alt fieberte mit den Teams, der Spaß war groß, viele filmten, Herzen flogen für die Tramfahrer durch Social Media.

Dazu trugen auch die beiden VGF-Fahrer am Morgen bei, als sie bei der ersten Aufgabe, einer ganz neuen Disziplin in diesem fast schon traditionellen Wettkampf, 400 von 500 Punkten holten. Sie wurde für die elfte Auflage der Tram-EM, die 2012 in Dresden Premiere feierte, vom Veranstalter entwickelt: Beim "Stop and Go" ist an der Straßenbahn ein mit Wasser befüllter Behälter angebracht. Dreimal müssen die Fahrer die Tram in Bewegung setzen und wieder zum Stehen bringen. Je weniger Flüssigkeit bei diesem Balanceakt verschüttet wird, desto mehr Punkte gibt es.

Beim Tram-Billard schlagen sich dann beispielsweise die Teams aus Mailand, Brüssel und Budapest besser. Hier nähert sich die Straßenbahn mit langsamer Fahrt einem Billard-Tisch und soll den Queue so anstoßen, dass dieser eine Kugel in Bewegung setzt. Als die Frankfurter an der Reihe sind, zeigen sie zu viel Gefühl, der 40 Tonnen schwere und 30 Meter lange Wagen bleibt zu früh stehen.

Zahlen wie diese und Wissen über die Tram und ihre Geschichte lassen die Moderatoren der Veranstaltung immer wieder einfließen. So hatte die Frankfurter Straßenbahn im Jahr 1872 ihre Jungfernfahrt. Gezogen wurde sie damals von einem Pferd. Zwölf Jahre später folgte die erste elektrisch angetriebene Bahn. Sie hatte 12,5 Pferdestärken (PS), fuhr eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 12 Stundenkilometern und bot Platz für 24 Fahrgäste.

Der S-Wagen, der am Samstag bei der Europameisterschaft im Einsatz ist, verfügt über 64 Sitz- und 115 Stehplätze. Vier rund 140 PS starke Motoren beschleunigen die Tram auf bis zu 70 Kilometer in der Stunde. Für die Punktejagd am Wettbewerbstag reichen aber schon 25 Kilometer pro Stunde. Von dieser Geschwindigkeit aus muss der Fahrer eine Notbremsung einleiten, sowie eine Ampel auf rot gesprungen ist. Dann messen die Schiedsrichter die Reaktionszeit, sofern vorher die Geschwindigkeit stimmte. Denn die 25 Stundenkilometer müssen die Fahrer quasi fühlen, das Tachometer ist verdeckt.

Überhaupt wird an diesem Tag mehr gebremst als gefahren. Ziel der vierten Aufgabe, des "Perfect Stop", ist, das Fahrzeug so zum Stehen zu bringen, dass die hintere Tür zentimetergenau in einem markierten Bereich liegt. Einige Teams stoppen zu früh. Die Bremsen der deutschen Straßenbahn seien härter als zu Hause, sagt EM-Teilnehmerin Caroline Holmgren aus Göteborg. Auf Rang 21 liegt ihr Team nach dem ersten Lauf, holt später aber zur Spitzengruppe auf.

Die 26 Duos – jedes ist mit einer Frau und einem Mann besetzt – aus 21 Nationen sind mit kleinen Delegationen angereist. Den lautesten Fanblock haben die Finnen hinter sich. Susanna Viherlento ist mit Freunden aus Helsinki gekommen, um ihre Kollegen, das Team aus Tampere, zu unterstützen.

Einen etwas kürzeren Weg hat Davide Miani hinter sich. Der Doktorand der Molekularbiologie kommt aus Triest. Miani schwenkt eine übergroße Fahne in den Nationalfarben Italiens. In der Mitte prangt ein goldener Adler, das Symbol seiner Heimatregion Friaul-Julisch Venetien. Darunter eine blau-weiße Tram. Die Schmalspurbahn, die eine fünf Kilometer lange Strecke bedient, sei die einzige Straßenbahn in Triest, sagt Miani. Deren Fahrer treten in Frankfurt aber nicht an, hier feuert der Italiener die Mailänder an.

Aber sein Großvater sei Straßenbahnmechaniker gewesen, erzählt er. Vielleicht komme daher seine Liebe für diese Fahrzeuge. Überhaupt möge er das Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, da man im Zug oder im Bus anders als beim Autofahren "nicht nachdenken" müsse. Für den Miani ist es schon die zweite Tram-EM, die er besucht.

Auch Sophia hat ihre Liebe zur Straßenbahn erst vor zwei Jahren entdeckt, als sie nach Köln gezogen ist. Aufgewachsen ist die 29 Jahre alte Bekleidungstechnikerin in einem Dorf in Oberfranken. Ihre Kleider näht sie selbst, angelehnt an die Mode aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Zeit also, in der die elektrische Straßenbahn entwickelt und populär wurde.

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Mehr als einhundert Jahre später sind die mechanischen Geräusche aus der Anfangszeit verschwunden. Die Straßenbahnen gleiten an diesem Samstag leise über die Schienen. Zu hören sind stattdessen Ahs und Ohs der Zuschauer, wenn eine Tram nur knapp außerhalb einer Markierung zum Stehen kommt. Davide Miani ist mit dem siebten Platz von Team Mailand am Ende zufrieden. Er habe ja keine Erwartungen gehabt, sagt er und lacht. Nächstes Jahr möchte Miani nach Wien reisen. Dort wird 2025 die erste Straßenbahn-Weltmeisterschaft ausgetragen.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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