She She Pop im Mousonturm: Alles wackelt und bröselt: Das Performerinnenkollektiv She She Pop sucht mit "Bullshit" nach neuen Lebensformen jenseits der Gewissheiten.
Wenn jetzt schon Ilia Papatheodorou das verkauft, was doch 30 Jahre lang ihr Markenkern auf der Bühne gewesen ist, ihre absolute Ehrlichkeit – was soll denn dann noch bleiben? Gründe zur Beunruhigung gibt es sehr viele. Das ist den vier Performerinnen von She She Pop ebenso klar wie jeder Person, die nur ein Fünkchen gesunden Menschenverstand besitzt. Aber Papatheodorou, Berit Stumpf, Lisa Lucassen und Mieke Matzke wären nicht She She Pop, würden sie das radikal Ernste nicht in ein Spiel verwandeln, das Raum zum Denken eröffnet.
Und deshalb verkaufen sie für 4,99 Euro auch die Säulen des Theaters, den Boden der Tatsachen und, sehr wichtig, eine kaum gebrauchte eigene Meinung. Sogar das eingenommene Geld wird wiederum verkauft – der Herr, der die 26 Euro zum Einheitspreis von 4,99 Euro erwirbt, muss sich aber auch die Frage gefallen lassen, ob er das Geld vergesellschaftet. Und weil im Mousonturm jeder für das Ticket zahlt, was sie oder er für angemessen hält, lässt sich auch darüber famos improvisieren. Denn diejenigen, die im Publikum den Luxus oder die Bürde haben, eben nicht auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen, bemessen den Wert des Gebotenen. Man kommt, um es kurz zu sagen, enorm auf seine Kosten.
Geboren aus Zweifel
Die Säule des Theaters aber kann erst mitgenommen werden, wenn der Mousonturm wie die übrige Kunst auch in Schutt und Asche gespart worden ist. Womöglich ist ein erstes Anzeichen dieses Sparens auch, dass She She Pop, deren Gastspiele in Frankfurt noch stets an eine Art Klassentreffen erinnert haben, mit Eltern der hessischstämmigen Teile des Teams im Publikum und zahllosen Weggefährten aus Gießen und Frankfurt, diesmal nur an zwei Abenden mit ihrem nagelneuen Stück aufgetreten sind? Dafür gab es einen nachmittäglichen Workshop, der mit Grund dafür gewesen sein könnte, dass in der zweiten Vorstellung erfrischend mehr junge Leute als sonst saßen.
Sie wie alle anderen kamen in den Genuss einer Performance, in der sich niemand zu schade ist, die buchstäblich nackten Tatsachen, auch die eines nicht mehr jungen weiblichen Körpers, in den Dienst des Zweifels, in das Befragen dessen, was man weiß oder zu wissen glaubt und was nun bröselt und bröckelt, zu stellen. Mag der rote Faden auch verheddert und zerstückelt verkauft werden – er leitet durch die anderthalb Stunden, in Gestalt von Leonard Cohens Song "Everybody Knows", den das Publikum mitsingt und aus dem Santiago Blaum einen Bühnensound komponiert hat, der den Cohen-Klassiker zum Motiv aus dem Andante von Schuberts Klaviertrio op. 100 hin verschiebt. Was der Performance nicht nur Halt gibt, sondern sie auch von Empörung in Richtung Melancholie gleiten lässt.
Das hat man von den Ikonen der deutschsprachigen Performanceszene lange nicht mehr so intensiv gesehen wie in "Bullshit", das in einer prekären, leider auch etwas langatmigen Utopie endet, mit Mensch-Tier-Wesen, die auf neue Art versuchen, das Zusammenleben aller Lebewesen schon einmal vorauszuspielen. "Bullshit" ist geboren aus Zweifel, wohl auch der Verzweiflung über die Verhältnisse, aber es ist eine Verzweiflung, die theatralen Witz erzeugt und im Spiel das Mögliche und Unmögliche auslotet. Nach den eher geplänkelhaften jüngeren Arbeiten zu Popsongs erreichen She She Pop damit wieder eine Dichte, wie man sie aus früheren Arbeiten kennt. Und schlagen, mit der Volte im letzten Teil, ganz neue Töne an. Die Ehrlichkeit, sie mag für 4,99 Euro über den Tresen gehen – sie ist immer noch da. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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