Evonik in Darmstadt: Vor fünf Jahren hat Evonik in Darmstadt die Plexiglasproduktion verkauft. Trotzdem bleibt der Standort breit aufgestellt.

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Darmstadt ⋅ Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Schaumstoffmatratzen – die großen Platten, die bei Evonik in Darmstadt frisch aus dem Ofen kommen und unter der Decke hängend auskühlen. Zum Schlafen eignen sie sich allerdings nicht, denn der Schaum, aus dem diese Platten bestehen, ist hart: Rohacell heißt das formstabile und gleichzeitig leichte Material, das vor allem in der Luft- und Raumfahrt zum Einsatz kommt. In der Außenhaut von Flugzeugen und Raumschiffen zum Beispiel, in der Innenverkleidung von Premium-Autos – und Formel-1-Rennwagen. Kleinere Mengen Rohacell hat fast jeder Verbraucher ständig dabei: Die Lautsprechermembranen vieler Mobiltelefone bestünden aus dem Hartschaum, sagt Produktionsleiter Robert Kolb.

Im Ofen wird der Hartschaum nur getrocknet, die für Rohacell typische Zellstruktur entsteht in einem warmen Wasserbad. Ehe sie darin aufgeschäumt werden, sind die Kunststoffplatten durchsichtig – und erinnern an ein Produkt, das einst zu den bekanntesten im Sortiment von Evonik zählte: Plexiglas.

Millionenbetrag für zweite Produktionsanlage

Fünf Jahre ist es her, dass der Spezialchemiekonzern diese Marke mitsamt den Produktionsanlagen und den dafür zuständigen Mitarbeitern in Darmstadt und Weiterstadt an einen Finanzinvestor verkaufte. Seitdem firmiert dieses Geschäft als das eigenständige Unternehmen Röhm GmbH – in Erinnerung an den Plexiglas-Erfinder Otto Röhm. Er war auch Mitgründer der Röhm & Haas OHG, die 1909 von Esslingen nach Darmstadt verlegt wurde und die Keimzelle des heutigen Evonik-Standorts an der Darmstädter Kirschenallee war. Die neue Röhm GmbH hat ihren Hauptsitz an der eineinhalb Kilometer entfernten Deutsche-Telekom-Allee.

Evonik-Vorstandschef Christian Kullmann begründete die Veräußerung 2019 mit der Absicht, den Konzern stärker auf die Spezialchemie fokussieren zu wollen. Dass Evonik dennoch breit aufgestellt bleibt, zeigt ein Blick auf das heutige Produktportfolio des Doppelstandorts Darmstadt und Weiterstadt: Neben Hochleistungsschaumstoff wird hier unter anderem Material für medizinische Implantate gefertigt, aber auch Spezialklebstoff für Lebensmittelverpackungen. Allein in die Rohacell-Fertigung hat Evonik seit 2019 einen zweistelligen Millionenbetrag investiert für eine zweite Produktionsanlage, die vor zwei Jahren in Betrieb genommen wurde. Auch neue Trockenöfen wurden angeschafft, die mit Strom betrieben werden – sie verbrauchten 90 Prozent weniger Energie als die alten, berichtet Kolb. "Aufs Jahr gesehen sparen wir dadurch 1,2 Gigawattstunden." Für den Betrieb der Öfen bezieht Evonik Ökostrom. Für die Zukunft sucht Kolb außerdem Wege, auch die Abwärme der Öfen zu nutzen: Sie könnte eines Tages die Wasserbecken heizen, in denen die Kunststoffplatten aufgeschäumt werden.

Fünf Milliarden Tablettenüberzüge pro Jahr

Während Kolbs Leute für das Handling der Platten Roboter und später für das Zurechtschneiden etwa von Flugzeugbauteilen große Fräsen zu Hilfe nehmen, haben die Mitarbeiter von Claudia Meister mit sehr kleinen Teilen zu tun: Die von ihr verantwortete Produktgruppe Degacryl umfasst Zahnersatzstoffe und Knochenzement, aber auch Rohstoffe für Heißsiegellacke, mit denen beispielsweise Aluminiumdeckel auf Joghurtbechern fixiert werden. "Wenn die Alufolie beim Abziehen einreißt, kommt der Siegellack nicht von uns", sagt Meister selbstbewusst. Auch bei der Befestigung von Folien auf Tabletten-Blistern komme Degacryl zum Einsatz.

Für Tabletten und Kapseln liefert Evonik aber nicht nur Material zur Versiegelung der Blister, sondern auch Zusatzstoffe. Seit 70 Jahren werden am Standort Darmstadt unter dem Namen Eudragit Kunststoffe hergestellt, die als unsichtbare Hülle über die Pillen gezogen werden und helfen, die Freisetzung der medizinischen Wirkstoffe zu steuern. In der vergangenen Woche wurde für die Eudragit-Produktion ein riesiger Sprühtrockner in Betrieb genommen, der die in Darmstadt zunächst in flüssiger Form hergestellten Polymere zu einem feinen Pulver trocknet. Bislang erfolgte dieser Schritt in Norddeutschland.

Fünf Milliarden Tablettenüberzüge verließen das Werk in Darmstadt pro Jahr, sagt Markus Rudek. Seit Jahresbeginn ist er Standortleiter von Evonik in Darmstadt. Mit Eudragit ist Rudek schon länger vertraut: Bei einem früheren Einsatz in Darmstadt leitete der langjährige Evonik-Mitarbeiter die dortige Produktion des Geschäftsgebiets Health Care.

Ein gemeinsamer Ursprung

Obwohl der Standort seither die Plexiglasproduktion abgegeben und Evonik im März den Abbau von 1500 Verwaltungsstellen allein in Deutschland angekündigt hat, zeigt sich Rudek zuversichtlich. Zum einen ist ein Großteil der 1500 Mitarbeiter in Darmstadt und Weiterstadt in der Produktion beschäftigt. Zum anderen: "Die Produkte hier erfordern ein erhebliches Know-how, das hier am Standort über Jahrzehnte gewachsen ist", sagt Rudek.

Denn auch wenn das Sortiment aus Tablettenzusatzstoffen, Heißsiegellack für Verpackungen und Hartschaum für den Flugzeugbau von außen betrachtet wie ein recht willkürlich zusammengewürfelter Bauchladen anmutet, haben diese Produkte doch einen gemeinsamen Ursprung.

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Eudragit-Tablettenüberzüge wurden auf Basis von Methacrylsäure entwickelt – einer Substanz, die neben anderen auch zum Grundrezept für Rohacell gehört. Und auch schon bei der Erfindung von Plexiglas durch Otto Röhm eine wichtige Rolle spielte.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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