Torwart-Legende Uli Stein: Erstmals spricht der frühere Torwart der Eintracht und der Nationalmannschaft Uli Stein über seine harte Kindheit. Seine Erinnerungen, die er in "Stimmen der Eintracht" schildert, sind hier in Auszügen zu lesen.

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Zu Hause war es schwer.

Mein Vater war vom Militär geprägt. Den Drill, den er dort erlebte, hat er in seinem Leben danach beibehalten. Das hat er uns spüren lassen.

Wir waren sieben Kinder.

Es gab immer Strafen. Nachts wurden wir in den Keller eingesperrt. Ein Gewölbe: klamm, feucht, dunkel. Du durftest kein Licht anmachen. Wehe, du hast Licht angemacht! Dann kam er gleich runter. Und du bekamst wieder eine. Dann hat er uns stundenlang im dunklen Keller sitzen lassen. Und das als kleines Kind.

Eine Regel war, dass abends um zehn Uhr das Licht im Zimmer aus sein musste. Ich wollte im Bett aber noch lesen, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke. Irgendwann kam er rein. Es gab einen Anschiss. Als er raus ist, bin ich heimlich wieder zum Lichtschalter. Darauf hat er nur gewartet. Die Tür ging auf: Wumm. Ich bin wieder rückwärts ins Bett gefallen.

"Er setzte seine Ordnungsvorstellungen durch"

Wir mussten immer alles tipptopp machen. Er verlangte absoluten Gehorsam. Ich hatte teilweise richtig Angst. Du wusstest nie, wie er reagiert, was kommt.

Schon als kleine Kinder mussten wir unsere Hemden in den Schränken akkurat übereinanderlegen. Es durfte keines auch nur einen Millimeter vom anderen abweichen. Wehe, wenn doch! Dann kam er und hat die ganzen Klamotten aus dem Schrank rausgefeuert. Wir mussten alles wieder einräumen. Er setzte seine Ordnungsvorstellungen durch.

So war es auch mit der Disziplin. Pünktlich um zwölf Uhr war Mittagessen, um 18 Uhr Abendessen. Wehe, du kamst eine Minute zu spät! Da war die Hölle los.

Eine Geschichte, die ich nicht vergesse: Es war samstags, die Nachbarskinder haben an der Gartenpforte gestanden mit dem Ball unter dem Arm und wollten mit uns ins Freibad zum Fußballspielen. Vater sagte: "Nix. Erst muss der Rasen gemäht werden."

Wir hatten einen der ersten Luftkissenrasenmäher, aber der war kaputt. Dann gab es noch einen Handmäher, der ging auch nicht. Die Klingen waren nicht scharf genug. Am Samstagnachmittag gab es natürlich niemand, der den Rasenmäher repariert oder die Klingen schärft. Ihm war das egal.

Vater sagte: "Ihr macht den Rasen fertig. Sonst kommt ihr hier nicht weg."

Mein Bruder und ich haben dann mit einer Schere den Rasen geschnitten. Mein Bruder hat provokativ noch einen draufgesetzt und eine Nagelschere genommen. Als Vater das gesehen hat, setzte es Ohrfeigen.

"Ich habe Hass aufgebaut"

Um ehrlich zu sein: Mein Vater war nicht nur vom Militär geprägt. Mein Vater war in der SS. Er war ein SS-Mann, aber das habe ich bis heute nicht ausgesprochen.

Die Zusammenhänge zwischen meiner Kindheit und wie mein Leben verlaufen ist, habe ich lange nicht gesehen. Erst durch Gespräche für dieses Buch bin ich dahintergekommen, dass die Wurzeln in meiner Kindheit liegen, auch in der Art und Weise, wie mein Vater uns erzogen hat.

Am Anfang gab es zwischen uns Kindern eine Solidarisierung. Das hat uns zusammengeschweißt. Sonst wäre es nicht möglich gewesen, dass keiner von uns später im Leben abgerutscht ist.

Die Erziehung hatte Auswirkungen auf meinen Charakter. Ich habe Hass aufgebaut, wenn ich mich ungerecht behandelt gefühlt habe, wenn ich ungerechtfertigt bestraft worden bin. Dieses Gefühl hat sich in meiner aktiven Zeit immer wieder durchgesetzt. Dann habe ich aufgemuckt. Das ist so in mir gespeichert. Das läuft automatisch ab. Da kommst du nicht raus. Vielleicht wäre ich rausgekommen, wenn jemand anders darauf reagiert hätte, wenn mir jemand andere Möglichkeiten aufgezeigt hätte. Zwei Tage später habe ich oft selbst gemerkt: Da hast du überreagiert, das hättest du anders lösen können. Ich war mir dann aber auch nicht zu schade zu sagen: "Es tut mir leid." Das war nie persönlich gemeint. (. . .)

Durch einen Zufall war mein Vater mal da, als ich im Verein gespielt habe. Er hat bei einem Spiel zugeschaut. Wir haben mit meiner Mannschaft immer souverän gewonnen; zur Halbzeit stand es 8:1. In der Pause haben wir auf dem Platz im Kreis zusammengesessen. Dann kam er auf mich zu – und hat mir eine Schelle gegeben.

Vater sagte: "Wegen des Gegentors. Es kann nicht sein, dass du bei so einem Spiel ein Gegentor fängst."

Mich hat das angespornt, noch besser zu werden. Das hat mich stark gemacht.

In meiner Kindheit habe ich 15 Umzüge erlebt, davon neun Umzüge in elf Jahren. Wenn man als Kind so oft umzieht und permanent aus dem eigenen Umfeld und der Schule herausgerissen wird, ist das ein Problem. Ich bin immer wieder in eine neue Schule gekommen, und es ist jedes Mal schwer gewesen, neue Leute kennenzulernen, als "Neuer" in die Gruppen reinzukommen, akzeptiert zu werden, Freunde zu finden. (. . .)

"Mich hat der Fußball gerettet"

Ich war zwölf oder 13, als sich meine Eltern scheiden ließen. Am Anfang war das sehr schwer. Die Vaterfigur fehlte.

Die Scheidung war auch ein sozialer Abstieg. (. . .) Bei sieben Kindern, wo das Geld vorne und hinten nicht reichte, hat auch die Gefahr bestanden, dass du in die falschen Kreise kommen kannst. Das Gute ist, dass es jeder von uns geschafft hat.

Mich hat der Fußball gerettet. Anders als meine Geschwister hätte ich sonst nicht mithalten können. Meine älteste Schwester: Abitur, studiert, ist Lehrerin geworden. Mein ältester Bruder: Abitur, studiert, ist Arzt geworden. Mein jüngster Bruder: Abitur, studiert, Rechtsanwalt. Ich: siebte Klasse, Gymnasium, runtergeflogen, auf dem zweiten Bildungsweg mittlere Reife. Ohne den Fußball hätte ich keine Karriere gemacht. Bei mir war von klein auf die Begeisterung für das Torwartspiel da, für das Fliegen. Ich wollte fliegen.

Die Einzelkämpferposition war mir auf den Leib geschrieben. In der B- und A-Jugend habe ich auch im Handball im Tor gespielt, da war ich auch gut. Am meisten hat mich an der Torwartposition mit den Jahren fasziniert: Du darfst kaum einen Fehler machen. Dir hilft keiner. Die Verantwortung hat mich gereizt. Ich wollte der Hüter meiner Mannschaft sein. Der Vater.

(. . .)

"Ich hätte jemand gebraucht, der zu mir wie ein Vater gewesen wäre"

Dass ich nie feste Freundschaften aufbauen konnte, hat vermutlich auch dazu geführt, dass ich zu dem Einzelkämpfer geworden bin, der ich war. Ich habe immer mit Ellbogen gekämpft. Das hat sich von meiner Jugend durchgezogen bis zum Beginn meiner Fußballkarriere.

Aber wenn du es dann geschafft hast, da rauszukommen, wenn du oben angekommen bist, an der Spitze – dann kannst du dich trotzdem nicht ändern. Man kann seinen Charakter nicht einfach umkrempeln und sagen: Jetzt werde ich anders. Daher hat mein Weg viele Nachteile mit sich gebracht. Ich war verbohrt, engstirnig. Ich habe nicht nach links und rechts geguckt. Nicht danach, welche Konsequenzen mein Handeln hatte. Ich sagte mir: Ich bin so – warum sollte ich mich ändern? Die Art und Weise, wie ich nach oben gekommen bin, hat mich so lange dort oben gehalten. Ich habe bis zum Alter von 42 Jahren in der Bundesliga gespielt.

Ich habe in meiner Karriere immer wieder Nackenschläge einstecken müssen.

Ich hätte jemand gebraucht, der zu mir wie ein Vater gewesen wäre. Wie eine Familie, die dich beschützt. Einer, der mich zur Seite genommen und gesagt hätte: "Uli, meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn . . ." Der mich in den Arm nimmt – und Kritik übt, positive Kritik. So jemanden gab es in meiner Karriere nicht.

Der Erste, der das getan hat, war Berti Vogts. Ich war sein Co-Trainer in Aserbaidschan. Da gab es auch wieder eine Situation, in der ich die Faxen dicke hatte und wieder aufhören wollte. Nach dem Spiel bin ich den Kabinengang raus. Es war dunkel, das Flutlicht aus. Berti sah mich weglaufen. Er rannte hinter mir her und rief immer wieder: "Uli . . ."

"Über viele Dinge kann ich heute lächeln"

Ich habe nicht reagiert und bin weitergelaufen. Nach dem dritten Mal war Ruhe. Ich dachte, Berti ist umgekehrt. Dann stehe ich am Stadionausgang, im Dunkeln. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter: "Uli, was ist los?"

Dann sind wir zurück ins Stadion, haben uns auf die Trainerbank gesetzt. Berti hat mit mir gesprochen, wie vorher noch nie jemand mit mir gesprochen hat. Er hat mir das Gefühl vermittelt, dass er mich braucht. Das hatte ich vorher nie. Ich war froh, dass es dunkel war: Ich hatte Tränen in den Augen. Gänsehaut. Das hatte ich das ganze Leben vermisst.

Das Gespräch mit Berti hat dazu geführt, dass ich Situationen heute anders bewerte als früher. Wäre das nur 25 Jahre früher passiert. Über viele Dinge kann ich heute lächeln. Manches hätte ich eleganter lösen können, aber zu den Suspendierungen wäre es trotzdem gekommen.

Wenn ich auf die Weltmeisterschaft 1986 zurückblicke, sehe ich den Uli Stein, den ich beschrieben habe: einen Erfolgsbesessenen. Ich wollte immer spielen. Ich dachte, jetzt bist du zum ersten Mal bei einer WM dabei – und das ist deine letzte Chance. Ich wurde im Jahr der WM 32 Jahre alt. Ich ahnte ja nicht, dass ich bis 42 spielen würde.

"Und dann kamen all die Superfußballer nach Frankfurt"

Nach dem ersten Spiel, einem enttäuschenden 1:1 gegen Uruguay, kam es zu einer Krisensitzung mit den drei Trainern: Franz Beckenbauer, Berti Vogts und Horst Köppel. Dann kam Franz zu mir und sagte wortwörtlich: "Uli, ich weiß, du bist der weltbeste Torhüter, aber du kannst hier nicht spielen." Da ist für mich eine Welt zusammengebrochen. (. . .)

Als ich im November 1987 kam, war die Eintracht eine graue Maus. Die Mannschaft stand auf Platz 17 und hat gegen den Abstieg gespielt. In der Saison haben wir sensationell den Pokal gewonnen. Es gab viele gute Jungs von der Mentalität her, aber wenig fußballerische Qualität. Nur kämpfen reicht nicht. Wir brauchten gute Fußballer. Stefan (Studer, die Redaktion) war einer von denen.

Dann kam die nächste Aktion. Heinz Gründel war überraschend frei, ein Riesenfußballer. Da habe ich das Gleiche gemacht, habe ihn angerufen: "Heinz, hast du nicht Bock, zu kommen? Stefan ist auch schon da."

So kam eins zum anderen: Ein guter Fußballer ist gekommen, weil ein anderer guter Spieler schon da war. Deswegen ist später auch Uwe Bein zur Eintracht gekommen, weil er wusste: Das sind Spieler, mit denen kannst du Fußball spielen – und dann kamen all die Superfußballer nach Frankfurt: Andy Möller, Anthony Yeboah, Jay-Jay Okocha.

"Ich will gewinnen, ich will Titel holen"

Anfang der Neunzigerjahre haben wir "Fußball 2000" gespielt, leider ohne Titel. An diesem Rädchen habe ich mitgedreht, ich war an der Entwicklung der Mannschaft mitbeteiligt. Das war für mich eine neue Erfahrung. Deswegen ist die Bindung zur Eintracht zum damaligen Zeitpunkt schon stark gewesen, intensiver, als sie für mich in Hamburg und Bielefeld war. Aber ich konnte auch in Frankfurt nicht aus meiner Haut.

Ernst Happel hat einmal ein Interview gegeben, in dem sich mein Verhalten am besten spiegelt: "Ich habe mit Uli nie Probleme gehabt. Uli hat nur mit sich selber Probleme. Je besser er war, umso höher waren die Ansprüche an seine Mitspieler. Er hat nicht verstanden, dass es Mitspieler gibt, die seinen Ansprüchen einfach nicht genügen können." Das war auch in Frankfurt so. Wenn ich das früher begriffen hätte, wären viele Dinge nicht so krass ausgefallen.

Andy Möller hatte in der Zeit bei der Eintracht viel mehr Potenzial, als er abgerufen hat. Bei Uwe Bein war das genauso, er war einer der besten Mittelfeldspieler, mit denen ich je zusammenspielen durfte. Aber er war verletzungsanfällig und oft krank. Doch mit Spielern, die oft ausfallen, kannst du keine Titel gewinnen. Und mein Anspruch war immer: "Ich will gewinnen, ich will Titel holen." Die Qualität in der Mannschaft war da, aber nicht der hundertprozentige Siegeswille, den ich hatte. Der fehlte anderen.

Deswegen kam es immer wieder zu Differenzen in der Mannschaft. Das war der Grund, weshalb ich in Frankfurt geschasst wurde. Da haben sich vier, fünf Spieler zusammengetan und gesagt: "Der muss weg." Die "Gerster-Boys" waren eine so starke Fraktion, da hatte ich keine Chance. Sie haben die Kritik nicht vertragen – und nicht die Art und Weise, wie ich Kritik geübt habe. Sie haben es geschafft, dass ich suspendiert wurde.

"Meine Beziehung zur Eintracht ist buchstäblich freundschaftlich"

Klaus Toppmöller war damals Trainer, wir wurden beide zum Vorstand zitiert. Mir wurde mitgeteilt: "Das war’s, auf Wiedersehen." Dann kam Toppmöller rein. Sie haben ihm gesagt, dass er Trainer bleiben kann, wenn er sich von mir distanziert. Klaus sagte: "Nein, ich distanziere mich nicht von Uli. Ich hätte gerne noch zehn von seiner Sorte in der Mannschaft." Dann musste er mitgehen. Klaus hätte es sich leicht machen können. Aber er hat zu mir gestanden. Das fand ich sensationell. Das hätte kein anderer Trainer gemacht.

(. . .)

Ich glaube, dass die Anerkennung für das, was ich geleistet habe, nach meiner Karriere immer größer geworden ist. Unbequeme Typen, wie es auch Toni Schumacher oder Stefan Effenberg waren, die die Ärmel hochkrempeln und sich auf- bäumen, sind mit der Zeit ausgestorben. Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass die Leute sich nach Typen wie uns sehnen. Obwohl sie das früher vielleicht nicht gut fanden. Es ist schön für mich, dass diese Anerkennung im hohen Alter kommt. (. . .)

Axel Hellmann hat mir 2017 beim Pokalfinale gegen Dortmund seine Idee vorgetragen, ehemalige Stars als Markenbotschafter an den Verein zu binden. Ich fand das eine sensationelle Idee, außer den Bayern hatte das kein Klub in Deutschland. Es war für mich selbstverständlich, dass ich zusage. Was ich toll fand, Axel sagte: "Uli, auch wenn du jetzt Markenbotschafter bist – bleib immer kritisch, auch uns gegenüber. Du musst jetzt nicht alles schönreden. Bleib, wie du bist."

Meine Beziehung zur Eintracht ist buchstäblich freundschaftlich. Auch wenn ich als Markenbotschafter jetzt nochmals ganz anders gebunden bin an den Verein.

Diese Beziehung bedeutet mir sehr viel, weil es ein Gefühl von beiderseitiger Anerkennung gibt. Ich finde die Arbeit der Eintracht in den letzten Jahren klasse, und umgekehrt finden sie meine Leistung toll. So wie mir früher das Torwartspiel Spaß gemacht hat, macht es mir heute Spaß, für einen Verein zu arbeiten, der in den letzten Jahren für solche Furore im internationalen Fußball gesorgt hat.

Ich bin ein Mensch, der von sich aus keine Veränderung wünscht. Ich bin auch mit meiner Frau seit über vierzig Jahren zusammen. Wenn ich in einem Kreis bin, in dem ich mich wohlfühle, würde ich ihn nie freiwillig verlassen. Ich habe nie irgendwelche Verbindungen aufgekündigt.

Bei der Eintracht bin ich dauerhaft angekommen. Die Verbindung wird nur dann enden, wenn es die Eintracht nicht mehr will. Von mir aus wird das bis zu meinem Lebensende halten.

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Unter dem Titel "Stimmen der Eintracht" treten Uli Stein und Jan Åge Fjørtoft am Donnerstag, 18.10., beim Lesefestival Open Books in Frankfurt auf. Mit dabei ist der Buchautor und F.A.Z.-Sportredakteur Michael Horeni. Beginn ist um 20 Uhr in der Evangelischen Akademie, Römerberg 9.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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