Schauspiel Frankfurt: Den Text von "Faust", beide Teile, kennt er, als hätte er ihn selbst geschrieben. Jetzt eröffnet Jan-Christoph Gockel die Spielzeit am Schauspiel Frankfurt mit Goethes Hauptwerk.

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Die Probebühne des Schauspiels Frankfurt ist das reinste Gruselkabinett. Überall liegen befremdliche Requisiten herum, hier ein paar ausgestopfte Vögel, dort ein glibbriger Schweinekopf. Man schaut in ein Glashaus, das an Frankensteins Laboratorium erinnert, und inmitten all dieser Kuriositäten und Monstrositäten kauert ein kadaveralter Greis, genauer gesagt eine Greisenpuppe mit beweglichem Knautschgesicht und einem Knautschkörper, mehr tot als lebendig wirkend. Was wird hier gespielt?

Bei dem Alten handelt es sich um den berühmten Doktor Faust, der in Jan-Christoph Gockels großem Theaterprojekt "Faust I & II" im Rollstuhl sitzt und zu den verschiedenen Stationen seines Bühnenlebens geschoben wird. Wie in vielen Inszenierungen des 1982 in Gießen geborenen, bei Kaiserslautern aufgewachsenen Gockel wird auch sein Faust-Projekt eine Mischung aus Schauspiel und Puppentheater sein.

Gemeinsam mit seinem Jugendfreund Michael Pietsch, der sämtliche Puppen in Handarbeit fertigt und oft auch als Puppenführer und Darsteller fungiert, hat Gockel zwischen 2014 und 2020 als Hausregisseur am Staatstheater Mainz unter anderem Hebbels "Die Nibelungen" und Hauptmanns "Die Ratten", inszeniert. Die Produktion "Beethoven – Ein Geisterspiel" wurde gemeinsam mit 3sat für das Fernsehen realisiert, und 2017 hat Gockel am Schauspiel Frankfurt Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" auf die Bühne gebracht.

Das Zusammenspiel von Schauspielern und Puppen ist längst zum Markenzeichen für Gockels außergewöhnliche Theaterabende geworden, 2017 haben Pietsch und Gockel dafür eine eigene Kompanie gegründet, als Kreativwerkstatt für ihre verschiedenen Projekte: "peaches & rooster".

Ein Abend für die "Erlebniswelt Faust"

Wie man an vielen der bisherigen Arbeiten Gockels sieht, hat er keine Scheu vor theatralischen Großprojekten, ja womöglich üben die Bühnen-Achttausender auch einen ganz besonderen Reiz auf ihn aus: "So eine Stoff- und Textmasse schreckt mich nicht." Doch den kompletten "Faust" an einem einzigen Abend zu bringen ist schon eine besondere Herausforderung. Beinahe neun Stunden dauerte vor wenigen Jahren die Inszenierung von "Faust I und II" am Hamburger Thalia-Theater, Peter Stein brauchte während der Expo 2000 in Hannover allein für den zweiten Teil vierzehn Stunden.

Angesichts solcher Dimensionen kann man es kaum fassen, dass Gockel für sein Faust-Projekt, das den ersten Teil knapper und vor allem als notwendige Vorgeschichte auf die Bühne bringt, mit vier Stunden auskommen will.

"Das ganze Spektakel wird an einem Abend abgefackelt!", verspricht er und plant nichts weniger als eine "Erlebniswelt Faust", eine wilde Fahrt durch die vielen Welten, die Goethe auf der Grundlage älterer Vorarbeiten zwischen 1825 und 1831 aufgetürmt und auf fünf Akte mit mehr als 12.000 Verszeilen verteilt hat: Die politischen Ränkespiele in der Kaiserlichen Pfalz, die Klassische Walpurgisnacht mit ihrem mythologischen Figurengewimmel, die Erscheinung Helenas, das Kriegsgeschehen und schließlich Fausts Industriekarriere als Bezwinger und Zerstörer der Natur.

"Die Leute haben ein Spektakel verdient"

"Fahrt" ist wörtlich zu verstehen. Denn die zweistöckige Bühne, die Julia Kurzweg auf der großen Fläche des Schauspiels errichtet, stellt eine veritable Geisterbahn dar, die vielen Stationen des Dramas werden mit Wagen angefahren. Das große Ziel: "Wir wollen Faust wieder dahin führen, wo er eigentlich herkommt – auf den Jahrmarkt." Gerade die Welt des ersten Teils, besonders aber natürlich auch der "Urfaust" erinnert durchaus an Moritaten, die Atmosphäre soll gerade nicht nur Faust als düsteren Denker zeigen, wie er heute oft gesehen wird.

Alles hier soll im besten Sinne populär sein, denn schließlich "haben die Leute ein Spektakel verdient". So gibt es Musik, Hörspielpassagen, Videos, Helena als Phantasmagorie im Stil einer Laterna Magica – ein Augen- und Ohrenfeuerwerk, für das viele technische Probleme zu lösen waren, was die lange Vorbereitungszeit von drei Jahren erklärt.

Sind das nicht alles Theaterkniffe, um die eigentlich unverdauliche Speise "Faust II" konsumierbar zu machen? Die Frage ist naheliegend, und auch Gockel macht sich keine Illusionen, dass der zweite Teil im Gegensatz zum ersten entschieden weniger Publikum anziehen würde. Deshalb auch der Doppelabend, der erste Teil, vergleichsweise kurz, soll die "kleine Welt" zeigen, der zweite dann sozusagen "als Staffel 2" in die große Welt führen. Diesen zweiten Teil will Gockel zum Leben erwecken: "Das ist doch ein geiles Theaterstück, und es ist keinesfalls abstrakt." Einwände schmettert er mit stupender Textkenntnis ab.

Wo Forschung und Kirmes sich die Hand reichen

Kein Wunder: Nach jahrelanger intensiver Vorbereitung mit immer neuen Lektüren, immer neuen Fassungen hat Gockel sich den Text so einverleibt, als hätte er ihn selbst geschrieben. Zudem hat Gockel sich auf den neuesten Stand der Forschung gebracht, keine Geringere als Anne Bohnenkamp-Renken, Direktorin des Freien Deutschen Hochstifts und des Frankfurter Goethe-Museums, stand ihm beratend zur Seite, hat "entscheidende Wegweisungen" gegeben. Neben der neuesten akademischen Forschung gab es aber auch schlichtweg Spaß: "Ich bin zu Recherchezwecken tatsächlich viel Geisterbahn gefahren."

Gockel schwärmt von der intensiven Probenarbeit, für die er insgesamt zwölf Wochen Zeit hat, was er für ein Projekt dieser Größenordnung für unerlässlich hält. Zu Beginn hat er mit dem Ensemble, in dem Wolfram Koch als "tragische Figur" Mephisto zu sehen ist, Thorsten Flassig den jungen Faust gibt und alle zehn Darsteller gemeinsam den alten Faust spielen, den gesamten Text gemeinsam gelesen. "Man muss das laut lesen", sagt er, "dann spürt man den Schwung des Textes erst so richtig!"

Dann erst könne man es auch richtig auf der Bühne umsetzen. Und wer "Faust II" für ein unspielbares Textmonstrum hält und wie viele Theatermacher und -kritiker eher für eine papierene Kopfgeburt als ein lebenspralles Bühnenwerk, der soll von Gockels Version eines Besseren belehrt werden: "Nein, das ist ganz und gar kein Lesedrama; wenn man es nur liest, versteht man es noch weniger!"

Die Gegenwärtigkeit betonen

Trotz aller mythologischen Anspielungen und metaphorischen Figuren hält Gockel vieles im Drama für "total konkret", besonders wenn es um die Schilderung ökonomischer und politischer Verhältnisse geht. Nicht zuletzt deshalb – und ein wenig sicher auch wegen der großen Bühne des Frankfurter Schauspiels – gehört der "Faust" für ihn auch nach Frankfurt.

"Frankfurt ist die Welt" sagt Gockel, denn es stehe, heute noch mehr als zu Goethes Lebzeiten, für die gesamte Finanzwelt, wo die wichtigen ökonomischen Entscheidungen gefällt würden, Fragen, die zentral im "Faust" behandelt werden. Faust, der die kleine Welt des ersten Teils hinter sich lässt, wird in der großen Welt des zweiten Teils zum Imperialisten und Kolonisator, er wird als kalter "homo oeconomicus" gezeigt, der nicht davor zurückscheut, die Mächte der Unterwelt zu entfesseln, um seinen Expansionsdrang zu stillen.

Das 200 Jahre alte Stück soll so zu einem sehr gegenwärtigen werden, denn für Gockel leben wir "in einer durch und durch faustischen Zeit". Auch an einer vermeintlichen Nebenfigur lasse sich das zeigen. So werde Wagner, im ersten Teil nur Stichwortgeber, hier mit seinem Laboratorium zu einer wichtigen Figur, der künstliche Wesen schafft, "westworldmäßig" nennt Gockel das in Anspielung auf die Science-Fiction-Serie.

Nach Faust kommen die Vampire

Auch dies ist, in Zeiten von KI und Gentechnik, brennend aktuell. Eine eher pessimistische und keinesfalls im Sinne der Klassik versöhnliche Interpretation also, in der Verkleidung einer Volksbelustigung? Jan-Christoph Gockel lacht und gibt durchaus zu, dass der Gedanke "etwas perfide" sei, aber: "Eine Dystopie darf doch auch Freude machen."

Immer wieder hebt Gockel im Gespräch hervor, dass so ein Projekt nur als Gemeinschaftsarbeit gelingen kann. Weder Star- noch Regietheater also, Teamwork ist der Markenkern seiner Theaterarbeit.

Gockel glaubt nicht an den Regie-Gott, der sich allein alles ausdenkt, das Kollektiv ist ihm sehr wichtig. Und eine kleine Spitze gegen den großen Peter Stein und dessen "Faust" gönnt er sich dabei: "Das ist so Theater von Genius zu Genius."

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Gockel, der seit der Spielzeit 2020/21 Hausregisseur und Teil der künstlerischen Leitung der Münchner Kammerspiele ist und vom "aufgeschlossenen Publikum" dort begeistert ist, wird auch mit seinem nächsten Projekt, das im Januar 2025 in München Premiere feiern wird, seinem Anspruch treu bleiben, dem Publikum ein Spektakel zu bieten: Eine Vampirkomödie, inspiriert von F. W. Murnaus "Nosferatu", steht auf dem Programm – gewissermaßen eine weitere Fahrt mit der Geisterbahn.

Premiere von "Faust" am 19. September, Schauspielhaus Frankfurt.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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