Anne Applebaum: Der Frieden ist weniger wichtig als der Sieg über die Gewaltherrschaft: Friedenspreisträgerin Anne Applebaum ruft in der Paulskirche zur Unterstützung der Ukraine auf.

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Der Krieg ist nicht weit weg. Nur einen Tag Autofahrt brauche man von Frankfurt bis an die Front in der Ukraine, sagt Anne Applebaum in der Paulskirche. Der gewaltsame Konflikt ist Westeuropa näher gerückt. Und mit ihm den Friedensfeiern, zu denen die Überreichung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in den vergangenen Jahrzehnten oft genug geworden ist.

Schon vor zwei Jahren aber sagte Applebaums Vorgänger Serhij Zhadan auf dem Podium, die Ukrainer würden hellhörig, sobald europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zur Notwendigkeit erklärten: "Nicht etwa weil sie die Notwendigkeit verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt." Im April 2024 ging der ukrainische Schriftsteller als Frontsoldat in den Einsatz.

Nun, im 75. Jahr der Auszeichnung, die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Ende der Frankfurter Buchmesse vergeben wird, geht der Friedenspreis an Applebaum. Die amerikanische Journalistin und Historikerin lebt seit dem Mauerfall in Osteuropa und hat in Büchern, Artikeln und Meinungsäußerungen zur sowjetischen und postsowjetischen Geschichte seit Langem vor Putins Rückgriff auf Denkfiguren und Handlungsmuster der einstigen Gewaltherrschaft gewarnt.

Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument

"Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen, und zwar nicht nur für die Ukraine", sagte sie: "Wenn wir die Möglichkeit haben, mit einem militärischen Sieg diesen schrecklichen Gewaltkult in Russland zu beenden, so wie ein militärischer Sieg den Gewaltkult in Deutschland beendet hat, dann sollten wir sie nutzen."

Applebaum stehe in einer Reihe mit den Denkern der Nationalversammlung, die vor 175 Jahren am Ort der Preisverleihung tagte, sagte Oberbürgermeister Mike Josef (SPD). Ihn erinnerte Putins Russland an die von der Obrigkeit erzwungene Friedhofsruhe in den deutschen Kleinstaaten vor der Revolution von 1848: "Ein Frieden, der nichts anderes ist als Ruhe im Inneren eines Landes, kann das Ergebnis von Unterdrückung sein, basierend auf dem Zustand totalitärer Herrschaft."

Die Verleihung des Friedenspreises sei ein guter Moment, um darauf hinzuweisen, dass der Ruf nach Frieden nicht immer ein moralisches Argument sei, sagte Applebaum: "Es ist auch ein guter Moment, um zu betonen, dass die Lektion der deutschen Geschichte nicht sein kann, dass die Deutschen Pazifisten sein müssen." Wer Pazifismus fordere und nicht nur Gebiete an Russland abtreten wolle, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, "der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt".

Die besten Waffen im Kampf gegen Russlands aggressives Vorgehen

Alle Bücher Applebaums seien vorausschauend gewesen, sagte die russische Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa in ihrer Laudatio, von "Der eiserne Vorhang" über "Roter Hunger" bis zu "Die Verlockung des Autoritären". Scherbakowa, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im deutschen Exil lebt, ist Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, die kurz vor dem Überfall von Putin verboten wurde.

Einige Mitglieder der Gesellschaft sind ebenso in der Paulskirche anwesend wie Politiker aus Bund, Land und der Stadt Frankfurt. Zu ihnen gesellt sich Applebaums Ehemann, der polnische Außenminister Radosław Sikorski. Der italienische Autor Roberto Saviano, von der Regierung seines Heimatlandes nicht zur Schriftstellerdelegation des Ehrengasts zugelassen, ist ebenfalls da und repräsentiert trotz der Präsenz des italienischen Gesandten gleichsam das Gastland der Buchmesse.

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Im Kampf gegen Russlands aggressives Vorgehen, schließt Applebaum, seien die besten Waffen gemeinsame Grundsätze, Ideale und auch Bündnisse: "Daher müssen wir heute für unsere gemeinsame Überzeugung einstehen, dass die Zukunft besser sein kann, dass wir diesen Krieg gewinnen können und dass wir die Diktatur einmal mehr überwinden können."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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