Landesmuseum Darmstadt: Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata bringen ihre Besucher zum Staunen: Sie inszenieren Objekte aus Kunst, Natur und Alltag im Hessischen Landesmuseum Darmstadt wie in einer Wunderkammer.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Eichelhäher und Elstern, die auf Mülleimern sitzen. Krähen und Füchse zwischen Bierflaschen. Und ein bronzenes Mädchen, das etwas verloren aussieht. Nur eine Katze steht ihr zur Seite. Die beiden scheinen aus der Stadt vertrieben worden zu sein. Jetzt gehört dieser Ort wilden Tieren, die von weggeworfenen Resten auf den Straßen leben.

In der Ausstellung "Ich muss mich erst mal sammeln", im Hessischen Landesmuseum Darmstadt eingerichtet von den beiden österreichischen Künstlern Jakob Lena Knebl und Markus Pires Mata, dürfen, nein, sollen die Besucher ihren Assoziationen freien Lauf lassen. Wie in der ersten Szene im Großen Saal des Museums, der Installation "Stadt/Land/Fluss". Den Titel der Arbeit erfährt der Besucher erst, wenn er den QR-Code scannt. Die Ausstellung verzichtet auf jegliche Beschilderung und kommt ganz ohne Hinweise auf Künstler, Werk und Entstehungsjahr aus.

So stehen die Besucher ohne Orientierung, sehen sich wie in einer Wunderkammer der Renaissance einer Flut an Exponaten aus Kunst, Natur und Alltagskultur gegenüber. Kunst steht neben Handwerk, Design neben Tierpräparaten, Mineral neben Schmuckstücken.

"Was ist schön? Was ist wertvoll?" Fragen wie diese wollen die Künstler mit ihrer opulenten Schau aufwerfen, für die sie aus den Sammlungen des Landesmuseums zur Kunst- und Naturgeschichte auf Einladung der Kuratorin Gabriele Mackert ihre persönliche Auswahl getroffen haben. Rund 300 Objekte von 60 Künstlern und Gestaltern zeigen sie nun mit einer Handvoll eigener Werke als riesige, vielfältig schillernde Rauminstallation.

Die Hierarchien zwischen Gattungen infrage stellen

Statt wissenschaftlichen Kriterien zu folgen, spüren sie assoziative Verwandtschaften auf, über Materialien, Themen und Farben. Zugute kam den Künstlern in diesem Prozess ihre langjährige Zusammenarbeit. Markus Pires Mata, der in Wien Fashiondesign studierte, hat 2006 zusammen mit Jakob Lena Knebl und anderen ein Unisex-Modelabel in Wien gegründet.

Er produzierte 2022 den österreichischen Pavillon in Venedig, den die Transgender-Künstler Knebl und Ashley Hans Scheirl auf der Biennale gestalteten. Und er realisierte ihre Schauen 2023 im Palais de Tokyo in Paris und 2024 in den Deichtorhallen/Sammlung Falkenberg in Hamburg. Auch hier erschufen sie Installationen, die Hierarchien zwischen Gattungen infrage stellen.

Mit der Vermischung von Privatem und Öffentlichem beginnt die Darmstädter Ausstellung. Der Besucher landet in einem Wohnraum, bestückt mit Ikea-Möbeln des tschechischen Designers Tomas Jelinek und Sofas, in die er sich lümmeln darf. Dort kann er, wie zu Hause, einen Film anschauen.

Er stammt vom Künstlerduo Nicole Six und Paul Petritsch und zeigt den Blindenhund Roxy, der jemanden durch den Block Beuys des Landesmuseums führt. Einen Blinden? Oder vielleicht eher einen Zuschauer, der sich durch das Museum tastet? Abgesehen von Blindenhunden seien Tiere im Museum nur in ausgestopfter Form erlaubt, sagt Knebl. In ihrer Installation finden sich allenthalben Tierpräparate.

Was macht Kunst zu Kunst?

Auf dem Weg in die Ausstellung begrüßen den Besucher jedoch zunächst ihre beiden großen Soft-Skulpturen "Birke" und "Regula". Die getöpferten Köpfe sitzen auf wulstig weichen, mit Cord und Jute bezogenen Körpern – eine Anspielung auf die Rupfentiere aus grobem Leinengewebe der Spielzeuggestalterin Renate Müller, wie Knebl sagt.

Zwei Fahrräder am Eingang sind ein erster Hinweis auf Marcel Duchamp, später entdeckt man sein "Roue de bicylette", ein Rad auf einem Hocker, 1913 war es sein erstes Readymade. Von Duchamps Idee, Alltagsgegenstände zur Kunst zu erheben, erzählt die Ausstellung an vielen Stellen. Und stellt, wie er, die Frage: Was macht Kunst zu Kunst?

Eine Frage, die den Besucher auf Schritt und Tritt begleitet, der sich durch diesen kuriosen Kosmos bewegt. Eine Überraschung ist der große Ausstellungssaal, der völlig verändert wirkt. Erstmals seit der Tony-Cragg-Ausstellung 2016 zeigt er sich wieder ohne Stellwände und mit offenen Fenstern. Und erstrahlt für diese Schau mit frischem, limettengrünem Boden. Verspiegelte Podeste, Gemälde, die auf Glas liegend von der Decke hängen, erleuchtete Lampen und Regale aus Plexiglas schaffen überraschende Perspektiven und erweitern den Saal ins Unendliche.

Wiederkehrende Themen sind Fragen zu Identität, Transformation und Geschlechterrollen. Fragmentierte Körper lassen erahnen, dass alles ganz anders sein könnte. Einem antiken Diskuswerfer ohne Kopf sind verschiedene Büsten und Köpfe an die Seite gelegt. "Keiner passt so richtig", sagt Mata. Gleichwohl seien es Vorschläge, neue Identitäten zu finden.

"Wir wollen die Demokratisierung der Objekte zeigen"

In der Installation "Flowers of Romance" wiederum bildet Knebls Bronzeskulptur "Maria" den irritierenden Mittelpunkt. Sie geht zurück auf die biblische Büßerin Maria Magdalena, die Gregor Erhart um 1515 aus Holz schnitzte. Knebl ließ die Nackte zur Hälfte in Bronze gießen, der vordere Teil mit Gesicht und Genitalien fehlt. Was macht jetzt noch ihre Weiblichkeit aus?

Zwei weitere Skulpturen beschäftigen sich mit dem menschlichen Körper, der Bronzeguss eines Daumens des französischen Bildhauers César und Schuhe aus Bergkristall von Marina Abramović, die zu schwer sind, als dass man sich mit ihnen fortbewegen könnte.

In einer Vitrine steht unter dem historischen Porträt eines österreichischen Diplomaten mit Allongeperücke das Präparat eines Haubenhuhns. Mit seinen auffälligen Kopffedern wirkt es wie eine Parodie des Grafen. Dazu Haartrockner von Braun, die auf den komischen Aspekt verweisen, den das mühsame Streben nach Schönheit mit sich bringen kann.

Es gibt also viel zu entdecken. Eichenstämme aus der Eiszeit, Eulen mit Jugendstilschmuck, Mineralien, deren Formen und Farben die Vielfalt der Natur spiegeln, ein hundert Jahre alter Bernhardinerhund, Getränkeflaschen, Gemälde, Skulpturen – alles nebeneinander präsentiert. "Wir wollen die Demokratisierung der Objekte zeigen", sagt Knebl.

Bezüge gibt es viele, Spaß auch. Leichtigkeit wird beschworen, das Ganze thematisch inspiriert von Musiktiteln aus der Jugendzeit der Kuratoren. So lässt die Präsentation den Betrachter neu auf die Sammlung blicken. Er wird sich, hoffen die Künstler, ohne Beschilderung allein der Faszination der Objekte hingeben. Das mag meist klappen, hinterlässt aber mitunter ein Gefühl der Bevormundung. Denn ausgerechnet dieser Ansatz, der nicht elitär sein möchte, enthält seinen Besuchern zu viel Wissen vor.

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Ich muss mich erst mal sammeln. Bis 16. Februar, Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Friedensplatz 1. Geöffnet dienstags, donnerstags und freitags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, an Wochenenden bis 17 Uhr  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.