Erinnerung an den Holocaust: Eva Szepesi hat als junges Mädchen den Holocaust überlebt. Über ihre Erlebnisse sprechen konnte sie erst 50 Jahre später. In einer Frankfurter Schule sagt sie, was sie von jungen Menschen erwartet.

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Auf der großen Bühne in der Aula des Frankfurter Lessing-Gymnasiums wirkt sie ein wenig verloren: Eva Szepesi, 92 Jahre alt, Holocaustüberlebende, geboren in Budapest. Zwölf Jahre war sie alt, als sie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde – nachdem sie zuvor aus Ungarn in die Slowakei geflüchtet war. Szepesi, die seit 1954 in Frankfurt lebt, lässt ihr Handtäschchen auf den Bühnenboden gleiten, sie zieht das Tuch zurecht, das sie um den Hals trägt, auf dem Tisch vor ihr stehen eine Blumenvase und ein Wasserglas.

Dann beginnt sie zu erzählen, von ihrer Schulzeit, von der Flucht, der fürchterlichen Angst, von den Verlusten – und im Saal wird es augenblicklich still. Gebannt hören die Schüler aus den Oberstufenjahrgängen ihr zu. Mal liest Szepesi aus ihren autobiographischen Erinnerungen mit dem Titel "Ein Mädchen allein auf der Flucht", mal spricht sie frei über das, was ihr in den vierziger Jahren im Osten Europas zugestoßen ist und sie bis heute nicht loslässt.

Das Mädchen wird als "Judensau" beschimpft

Ihre Kindheit nennt Szepesi "glücklich, bis ich sechs oder sieben Jahre alt war". Meist spielen sie draußen im Freien, das Mädchen und ihre Cousinen, sie füttern die Hasen, pflücken Aprikosen von den Bäumen. Zum Schabbat backt ihre Großmutter Challa, das traditionelle jüdische Zopfbrot, schon frühmorgens breitet sich der Geruch in der Wohnung aus. Doch dann ändert sich das Leben des Mädchens auf brutale Weise. Mitschüler, die gerade noch ihre besten Freunde waren, wenden sich von ihr ab oder beschimpfen sie als "Judensau".

Der Kinobesuch wird den Juden verboten, sie dürfen nicht mehr ins Schwimmbad, nicht mehr zum Schlittschuhlaufen, kein Radio mehr hören. Die Tiere, die sie besitzen, müssen sie abgeben. Im April 1944, nachdem Deutschland Ungarn besetzt hatte, werden die Familienmitglieder verpflichtet, den gelben "Judenstern" zu tragen. Wenig später beginnen die Deportationen.

Das Mädchen soll fliehen, mit ihrer Tante, über die Grenze in die Slowakei. Am Bahnhof in Budapest umarmt ihre Mutter sie zum Abschied "so fest, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam". Sie hofft, dass sie die Mutter und auch ihren Bruder bald wiedersehen wird. "Zehn oder zwölf Stunden" laufen das Mädchen und ihre Tante durch den Wald. Kein Wort soll sie auf der Flucht sprechen, so wurde es ihr eingetrichtert.

Bei zwei Schwestern kommt sie unter, doch die Nationalsozialisten spüren das Versteck auf. Im November 1944 wird sie nach Auschwitz deportiert – in einem Viehwaggon. Im Lager gibt eine slowakische Aufseherin dem Mädchen einen Hinweis, der ihr Leben retten wird: Sie soll, wenn man sie nach dem Alter fragt, sagen, dass sie 16 Jahre alt ist. Denn wer jünger ist, wird direkt vergast. Auf den Arm wird ihr die Häftlingsnummer tätowiert: A26877. Als sowjetische Truppen das Lager Ende Januar 1945 befreien, steht die Zwölfjährige kurz vor dem Tod. Sie ist so gut wie verhungert, hat Fieber, verliert das Bewusstsein. "Ich hatte keine Kraft mehr, war zu schwach, um aufzustehen", erinnert sie sich beinahe 80 Jahre später.

Szepesi hat lange geschwiegen

Eva Szepesi hat lange gebraucht, bis sie über ihr Leid sprechen konnte. 50 Jahre hat sie geschwiegen. "Es war Schutz", sagt sie in der Aula des Lessing-Gymnasiums. "Weil ich meine Kinder nicht belasten wollte." Erst 1995, bei einem Besuch des Lagers Auschwitz, erklärt sie sich dazu bereit, der Shoah Foundation ein Interview zu geben. Der Filmregisseur Steven Spielberg hatte die Stiftung gegründet, um Erinnerungen von Holocaustüberlebenden per Videoaufnahme zu dokumentieren. Danach wird das Sprechen über die Schoa zu ihrer Lebensaufgabe. Szepesi schreibt ihre Erinnerungen auf, besucht von nun an regelmäßig Schulen, um über das Erlebte zu berichten. Anfang des Jahres spricht sie auch im Bundestag in Berlin: Szepesi hält eine vielbeachtete Rede zum Holocaust-Gedenktag.

Der Anlass für ihren Auftritt im Frankfurter Lessing-Gymnasium ist der bevorstehende Gedenktag zu den Novemberpogromen: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden überall in Deutschland Juden angegriffen, Synagogen angezündet und jüdische Geschäfte geplündert. In Frankfurt wurden die Gotteshäuser in der Börnestraße, am Börneplatz, an der Friedberger Anlage und im Stadtteil Höchst niedergebrannt. Auch die Westendsynagoge wurde damals in Brand gesteckt. Das Gebäude aber blieb erhalten: Die Nazis hatten Angst, dass das Feuer auf umliegende Häuser übergreifen könnte.

Es gibt heute nicht mehr viele Überlebende wie Szepesi, die noch davon berichten können, wie sie die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft erlebt haben. Die Erinnerungskultur wird sich dadurch in den nächsten Jahren zwangsläufig wandeln. Wie kann Erinnerung aussehen, wenn es immer weniger Zeitzeugen gibt? Diese Frage treibt viele Initiativen und Institutionen um. Die Videos der Shoah Foundation sind eine Form, die Geschichten der Überlebenden zu konservieren. Entwickelt werden aber auch interaktive Zeitzeugnisse in 3D-Darstellung, bei denen Nutzer eigene Fragen stellen können und der Eindruck einer realen Gesprächssituation entstehen soll – das Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt hat sich an der Konzeption einer solchen Anwendung beteiligt.

Und auch Künstler beschäftigen sich mit dem Thema. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist die Graphic Novel "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung" von Barbara Yelin. Vier Jahre lang hat die Zeichnerin die Überlebende immer wieder getroffen und aus ihrer Lebensgeschichte einen Comic entwickelt.

"Glaubt nicht einfach, was euch erzählt wird"

Eva Szepesi will weiter über den Holocaust sprechen, die Schulbesuche liegen der Zweiundneunzigjährigen am Herzen. Viel Zeit nimmt sie sich für die Fragen der Schüler. Ihre Tochter Anita Schwarz kommt auf die Bühne, setzt sich neben sie. Die Schüler wollen wissen, wie es nach Szepesis Rückkehr nach Budapest weiterging, wie sie davon erfahren hat, dass ihre Mutter und auch ihr Bruder in Auschwitz ermordet wurden, warum sie mit ihrem Mann ausgerechnet nach Deutschland, in das "Land der Täter", gezogen ist, wie sie die Wahlerfolge der AfD bewertet. Und sie wollen wissen, was Szepesi von ihrer Generation erwartet, welche Ratschläge sie ihnen mitgeben möchte? "Schweigt nicht, wenn ihr Ungerechtigkeiten mitbekommt", antwortet die Holocaustüberlebende. "Seid aufmerksam und informiert euch. Glaubt nicht einfach, was euch erzählt wird, sondern denkt selbst nach."

Erinnerung an die Novemberpogrome

Am 9. November 1938 brannten in Frankfurt die Synagogen. Mit unterschiedlichen Veranstaltungen wird dieses Wochenende an die brutalen Übergriffe auf Juden erinnert. Bei der Gedenkveranstaltung der Jüdischen Gemeinde in der Westendsynagoge wird am Sonntagabend unter anderem Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprechen. Die Stadt lädt am gleichen Tag zu einer Veranstaltung für geladene Gäste in die Paulskirche ein.

Für jedermann zugänglich ist die Gedenkveranstaltung, die die Initiative 9. November organisiert: Der Verein betreibt den Bunker, der am Ort der zerstörten Synagoge an der Friedberger Anlage gebaut wurde, als Raum für Ausstellungen, Konzerte und Lesungen. Am Samstag, 9. November, ist dort von etwa 18 Uhr eine Fassadenprojektion zu sehen: An der Außenwand des Bunkers wird eine virtuelle Rekonstruktion der zerstörten Synagoge gezeigt.

An die Pogrome erinnert wird auch am 10. November um 14 Uhr an der Frankfurter Festhalle. Mehr als 3000 jüdische Männer wurden nach der Pogromnacht festgenommen. Von der Festhalle aus wurden sie in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau deportiert. Auf dem Platz vor der Festhalle sprechen Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg (Die Grünen) und Norbert Birkwald von der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten".

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Das Jüdische Museum organisiert einen Lerntag, der im neuen Ausstellungsraum "Goldener Apfel" (An der Staufenmauer 11) stattfindet. Der Gewölbekeller gehörte zu einem Haus in der früheren Judengasse, in der Ausstellung spielt die liberale Hauptsynagoge, die in der Nähe stand, eine wichtige Rolle. Das Programm beginnt um 11 Uhr, detaillierte Informationen finden sich im Internet unter www.juedischesmuseum.de © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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