Neue Arbeitskultur: In Zeiten wirtschaftlicher Herausforderungen wird die Forderung nach einer neuen Arbeitskultur lauter.

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Ansätze wie Job Crafting und die Aufwertung der Care Economy könnten den Weg zu einer gerechteren und erfüllenderen Arbeitswelt ebnen.

Die Debatte um New Work, also eine neue Art des Arbeitens, aber auch um Sinnfindung und Selbstverwirklichung im Job scheint angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation auf den ersten Blick nicht mehr zeitgemäß. Deutschland bewegt sich auf eine Rezession zu. Unternehmen bauen Personal ab.

Die wirtschaftlichen Perspektiven sind alles andere als positiv. Und dennoch: Nie war es dringlicher, die Arbeit als solche zu innovieren und besser an die Bedürfnisse der Menschen anzupassen. Das zeigen auch die Ergebnisse der Studie "Arbeitsreport 2024" sehr deutlich.

"Arbeitslosigkeit für alle, nicht nur für die Reichen!" – so lautet das Motto des amerikanischen Anti-Work-Forums. Mittlerweile finden sich knapp drei Millionen Menschen auf dieser Plattform, auf der sie ihren Unmut über ihre aktuellen Arbeitsbedingungen kundtun. Dabei geht es keinesfalls darum, ein Leben in Arbeitslosigkeit anzustreben. Es geht vielmehr um das Ideal einer selbstbestimmten Lebensführung – so, wie vermögende Menschen die Freiheit haben, ob, wann, wo und wie sie arbeiten.

Hohe Unzufriedenheit mit Arbeitgebern messbar

Das ist das Versprechen von New Work – für sich eine Antwort auf die Frage zu finden: "Was willst du wirklich, wirklich tun?", wie es der New-Work-Vordenker Frithjof Bergmann in den Achtzigerjahren formulierte. Doch wie es scheint, hat sich das Ideal von New Work für die Mehrheit nicht verwirklicht, wie Studien zeigen.

So fühlen sich laut einer Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Gallup nur 14 Prozent der Beschäftigten in Deutschland emotional mit ihren Jobs und Arbeitgebern verbunden. Jeder vierte Arbeitnehmer weltweit ist, so zeigt eine Befragung der Unternehmensberatung McKinsey, häufig einem toxischen Führungsstil ausgesetzt. 40 Prozent der Arbeitnehmer wollen laut Weltwirtschaftsforum in naher Zukunft kündigen.

In Zeiten einer drohenden Rezession mögen einige denken, dass die Leute in schlechten Zeiten die Zähne zusammenbeißen, sich um ihr Glück und Wohlbefinden später kümmern sollten, wenn die gesamtwirtschaftliche Lage wieder besser ist. Doch gerade wenn die Zeiten rauer werden, müssen Teams besser zusammenarbeiten und Freude im Job haben, um die beste Leistung zu erbringen.

Das gilt nicht nur für Büroarbeiter, die mit Homeoffice ihre Vorstellungen von New Work teils realisiert haben, sondern vor allem für die Menschen, die ortsgebunden arbeiten: im Handwerk, im Straßenbau, in Krankenhäusern, in Kitas.

"Wohlstand für alle" scheint unerreichbar

Im Moment droht uns eine gefährliche Spaltung der Arbeitswelt. Während sich die einen in gut bezahlten Jobs die Frage stellen, ob sich Portugal oder Spanien besser für die dreimonatige Workation, also für die immer beliebtere Kombination aus Arbeit und Urlaub, eignen, ächzen Altenpfleger oder Erzieher unter steigenden Lebenshaltungskosten.

Am Beispiel USA können wir sehen, was die Auswirkungen solch einer Entwicklung sind. 1965 verdienten Vorstandsvorsitzende großer Unternehmen in den Vereinigten Staaten im Schnitt das 21-Fache des Lohns einfacher Angestellter. 2023 lag dieses Verhältnis bei 290:1. Die Folgen sind eine tiefe Spaltung der Gesellschaft, in der Populismus und Konflikte die Oberhand gewinnen.

Der Kapitalismus ist aus dem Ruder gelaufen. Fast alle Wohlstandsgewinne landen bei den obersten zehn Prozent der Bevölkerung. Die Inflation lässt Arm und Reich weiter auseinanderdriften. Die Mietpreise explodieren, weil Eigentum für die meisten unerschwinglich geworden ist. "Wohlstand für alle" – das Versprechen, das einst Wirtschaftsminister Ludwig Erhard machte – scheint unerreichbar.

"Care Economy" besonders betroffen

Wenn wir also über New Work und die Verbesserung der Arbeitswelt sprechen, dürfen jene nicht ignoriert werden, die für das Funktionieren einer Gesellschaft unerlässlich sind: die Hunderttausenden, die in der sogenannten "Care Economy" tätig sind, die Bildung, Erziehung und Gesundheit umfasst.

Keine Gesellschaft kann es sich leisten, diese Berufsgruppen in schlecht bezahlten Jobs mit geringer Reputation verharren zu lassen. Denn diese Jobs werden dann nicht mehr ausgeübt. Die Zahl zur Verfügung stehender Arbeitskräfte in Deutschland wird bis 2030 um fünf Millionen schrumpfen.

Besonders angespannt wird die Lage im Sektor der Care Economy sein. Das gilt für alle Industrienationen mit ihren alternden Gesellschaften. Immer mehr Rentner und Pflegebedürftige müssen von immer weniger Arbeitnehmern umsorgt werden.

In dieser Not steckt aber auch eine Chance: die Nachfrage nach Care-Dienstleistungen als ökonomischen Wachstumsmotor zu begreifen und die Berufe aufzuwerten - durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen. Das ist keine sozialistische Phantasie, sondern nüchternes, ökonomisches Kalkül. Das World Economic Forum berichtet in einem Artikel, dass die Bereitstellung neuer und der Ausbau bestehender Kinderbetreuungssysteme jedes Jahr etwa drei Billionen Dollar für die Weltwirtschaft einbringen könnten.

Zukunftstrend "Job Crafting"

Neben dem zentralen Aspekt einer besseren Vergütung gibt es einen weiteren Ansatz, die Prinzipien von New Work für alle zu verwirklichen: Job Crafting. Die Kernidee ist, kleine Anpassungen am Beruf vorzunehmen, sodass die Arbeit optimal zur Motivation und den Stärken der Menschen passt.

Als Urheberinnen dieses Ansatzes gelten die Organisationspsychologinnen Amy Wrzesniewski (University of Pennsylvania) und Jane Dutton (Michigan Ross). In einer Studie unter Reinigungskräften in einem US-Krankenhaus machten sie eine überraschende Entdeckung. Während die einen sehr unzufrieden mit ihrem Job waren und sich als wenig qualifizierte, schlecht bezahlte Arbeitskräfte gesehen haben, waren die anderen glücklich mit ihrer Tätigkeit.

Die größere Zufriedenheit der einen Gruppe hatte vor allem damit zu tun, wie die Reinigungskräfte ihren Job ausübten und wie sie auf diesen selbst blickten. So nahmen sie sich unter anderem die Zeit, mit Patienten zu sprechen. Dabei erfuhren sie, welch positive Wirkung ihr Handeln auf den Heilungsprozess hat, was sie sich als Teil eines größeren Ganzen wahrnehmen ließ. Ausgehend von dieser Beobachtung untersuchten Wrzesniewski und Dutton, was die Stellschrauben für eine größere Zufriedenheit im Job sind.

Zunächst einmal sollten wir unsere Arbeit mehr als etwas Wachsartiges denn als festbetoniert verstehen. Wachs lässt sich formen. Dabei gibt es drei Kernbereiche des Job Crafting: die Veränderung des Aufgabenbereichs, die Veränderung der Arbeitsbeziehungen und die Veränderung der Wahrnehmung der Arbeit .

Zufriedenheit durch Flexibilität und Autonomie

Wenn Menschen eine größere Autonomie bekommen, wie sie ihre Arbeit verrichten können, werden sie automatisch beginnen, die Tätigkeiten ihren individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen. In der Pflege kann dies beispielsweise dazu führen, dass Schichtpläne innerhalb des Teams selbst organisiert und auch Tätigkeiten individuell verteilt werden. Ebenso maßgeblich für die Jobzufriedenheit sind die Beziehungen zu den Kollegen. Das Miteinander zu fördern und Menschen sich als Teil eines Teams erfahren zu lassen stärkt die Verbundenheit mit dem Job.

Ein Beispiel aus der Praxis dafür, dass Job-Crafting keine naive Träumerei ist, liefert die niederländische Pflegeorganisation Buurtzorg. Gegründet wurde sie im Jahr 2006 von Jos de Blok, der zuvor als Manager bei zwei ambulanten Pflegediensten gearbeitet hatte. Unzufrieden mit den dortigen Verhältnissen, gründete er Buurtzorg, um neue Wege in der Pflege zu gehen. Bei Buurtzorg wird auf Hierarchie verzichtet. Selbständige Teams von ungefähr zehn Mitarbeitern regeln alles selbst, von der Planung ihrer Arbeit bis hin zu den Kontakten zu den Hausärzten. Die Mitarbeiter können entscheiden, wie viel Zeit sie bei einem Patienten verbringen oder ob sie ein Auto für das Team anschaffen.

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Was mit vier Mitarbeitern startete, entwickelte sich zu einer Organisation mit rund 15.000 Beschäftigten. Obwohl sich die Pflegeteams mehr Zeit für die einzelnen Patienten nehmen, ist der Ansatz effektiv. Laut Analyse des Beratungsunternehmens EY könnten 40 Prozent der Kosten eingespart werden, wenn die gesamte Pflege nach dem Buurtzorg-Modell realisiert werden würde.

Es gilt also, die Arbeit aus dem engen Korsett der hinter uns liegenden Industriekultur zu befreien: mehr Flexibilität, mehr Autonomie, mehr Sinn – für alle.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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