Hessens Lehrpläne: In Südhessen haben Jugendliche die Schule verlassen, ohne dass ihnen der Nationalsozialismus im Unterricht begegnet ist. Steht das Thema zu spät auf dem Lehrplan?

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Wer in Hessen eine Schule besucht hat, sollte das Thema Nationalsozialismus im Unterricht durchgenommen haben. Ganz gleich, ob Haupt- oder Realschule, Gesamtschule oder Gymnasium. So ist es eigentlich gedacht und in Lehrplänen des Kultusministeriums vorgegeben.

Doch am Beispiel einer Integrierten Gesamtschule im Landkreis Darmstadt-Dieburg zeigt sich, dass dem nicht immer so ist. Dort sind mindestens in den beiden letzten Jahrgängen Schülerinnen und Schüler nach der neunten Klasse abgegangen, ohne sich mit dem Dritten Reich befasst zu haben. Und wahrscheinlich ist das kein Einzelfall.

Schüler haben die F.A.Z. darüber informiert, dass der Nationalsozialismus in den beiden vorigen Schuljahren in jeweils mindestens einer neunten Klasse nicht behandelt worden sei. Es steht im Fach Gesellschaftslehre zwar auf dem Lehrplan. Auf Nachfrage nach dem Thema aus einer betroffenen Klasse im vorigen Sommerhalbjahr habe die Lehrkraft mitgeteilt, das komme erst in der zehnten Klasse an die Reihe. Ähnlich schildert es ein anderer Schüler, der im vorherigen Schuljahr die neunte Klasse besuchte: Zwar habe ihr Lehrer das Thema im Unterricht drangenommen – doch dies entgegen einem Beschluss von Kollegen, es erst in der zehnten Klasse zu behandeln.

Können Schulen den Zeitpunkt wählen?

Auf Nachfrage bei der Gesamtschule wird dies bestätigt. "Die vom Kultusministerium vorgegebenen Handreichungen für die Integrierte Gesamtschule lassen den Schulen die freie Entscheidung, ob das Thema ‚Nationalsozialistische Diktatur‘ in Jahrgang 9 oder 10 behandelt wird", erläutert der Fachsprecher Gesellschaftslehre, der nicht namentlich genannt werden will. Im eigenen Schullehrplan habe man es in der neunten Klasse platziert, damit sich auch die danach Abgehenden "mit diesem wichtigen Thema befasst haben".

Aus verschiedenen Gründen könne es jedoch vorkommen, dass das Thema ins zehnte Schuljahr verschoben werde, berichtet der Fachsprecher. Es gebe bestimmte Kolleginnen und Kollegen, die sich nicht an die Vorgehensweise hielten. Er selbst habe voriges Schuljahr eine zehnte Klasse übernommen und das Thema dann nachholen müssen. "Gründe hierfür waren zahlreiche Lehrerwechsel im Fach." Wie bei vielen anderen Schulen sei es ein großes Problem, krankheits- oder schwangerschaftsbedingte Ausfälle adäquat aufzufangen.

Stellt man den Gesamtschulen tatsächlich frei, das Thema in Klasse 9 oder 10 zu behandeln, und riskiert so, dass es nicht alle durchnehmen? Das hessische Kultusministerium bestreitet dies. Denn während in den Handreichungen des Ministeriums für das Fach Gesellschaftslehre an Integrierten Gesamtschulen das NS-Thema unter den beiden Jahrgangsstufen 9 und 10 gelistet ist, legten die Anforderungen für den Bildungszweig Hauptschule es als verbindlich bis zum Ende der 9. Klasse fest. "Die Schulen sind also nicht völlig frei in der Behandlung des Themas", erklärt eine Ministeriumssprecherin.

Veraltetes Fach Gesellschaftslehre

Die Bildungsgewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sieht eine grundlegende Problematik im Fach Gesellschaftslehre, wozu Geschichte und Politik gehören. "Für all diese Fächer gilt, dass sie einen schlechten Stand haben", sagt Roman George, Referent für Bildungspolitik der GEW Hessen in Frankfurt.

Das fange schon damit an, dass für das Fach Gesellschaftslehre an sich nicht ausgebildet werde. "Das kann man nicht studieren." Auch werde es häufig fachfremd mitunterrichtet, etwa von Klassenlehrern, daher habe der Unterricht oft nicht die beste Qualität. Eine Rolle spiele nicht zuletzt der Lehrkräftemangel. "Wir fordern schon lange, dass das besser werden muss."

Mehr Qualität und Konsequenz beim Thema Nationalsozialismus an Schulen wünscht sich auch Pia Rosenberg, Sprecherin der Landesschülervertretung Hessen. "Bei mir wurde das alles gut aufgearbeitet", stellt die 17 Jahre alte Gymnasiastin aus Friedberg fest. Aber auf Nachfrage in ihrem Kreis habe sich gezeigt, dass die NS-Zeit nicht bei allen derart gut thematisiert wurde. "Wir fordern, dass alle Schülerinnen und Schüler das vermittelt bekommen."

Noch mehr Relevanz des Themas durch Erstarken der AfD

Hierzu müssten die Lehrkräfte entsprechend inhaltlich geschult sein und die Lehrpläne konsequent unterrichtet werden. Auch der Besuch einer Gedenkstätte gehöre für sie dazu, und auch das würden nicht alle während der Schulzeit erleben. "Es ist wichtig, dass man das mal mit eigenen Augen sieht", betont die Landesschulsprecherin. Das gilt für sie umso mehr angesichts des Erstarkens der AfD, die zuletzt auch von vielen jungen Leuten gewählt wurde. "Ich habe das Gefühl, dass bei vielen das Verständnis fehlt, was für Konsequenzen ihre Entscheidung hat."

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestags hat 2018 die Lehrpläne der 16 Bundesländer verglichen und kommt zu dem Schluss, dass die Bedeutung abnimmt, die das Thema Nationalsozialismus im Unterricht hat. Im Vergleich zur letzten Untersuchung 2006 werde die NS-Zeit "kaum noch explizit singulär beschrieben. Der rassistische Antisemitismus als Kern der nationalsozialistischen Ideologie spiele in gut der Hälfte der Lehrpläne keine zentrale Rolle."

Geschichte sei in immer weniger Bundesländern ein eigenes Schulfach, und der Stundenumfang werde immer mehr reduziert. Auch werde die NS-Zeit zunehmend nicht mehr als geschlossenes Themenfeld behandelt, sondern als ein Ereignis in einer Kette von Ereignissen. "Dies ist eine problematische Entwicklung, da sie zu einer Reduzierung des inhaltlichen Umfangs des Themas führt."

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Das Hessische Kultusministerium hebt die Bedeutung des Themas hervor sowie der Fächer, in denen es vermittelt wird. "Deshalb wurde das Fach Politik und Wirtschaft mit einer Stunde aufgewertet", sagt die Sprecherin. Und da das Fach Gesellschaftslehre immer wichtiger werde, führe die Hessische Lehrkräfteakademie seit dem Schuljahr 2023/2024 in einem Pilotversuch eine Fortbildung durch. "Die Erkenntnisse fließen in die Weiterentwicklung ein."  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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