Rauhnächte: In den Rauhnächten scheint eine Welt auf, in der die gewöhnliche Ordnung der Dinge ausgehebelt ist.
Auch in Frankfurt gibt es eine lange Tradition des Übernatürlichen, dem viele in dieser mitunter als finster erlebten Gegenwart etwas abgewinnen können.
Der Boom hält an. Es ist noch nicht allzu lange her, da wussten die wenigsten etwas von der besonderen Zeit nach Weihnachten, in der Träume nicht nur Schäume sein sollen, sondern die lautere Wahrheit. Dass in den Rauhnächten Geträumtes tatsächlich eintrifft, hat sich als okkultes Wissen zwar über die Jahrhunderte bewahrt und war stets Teil des Volksaberglaubens.
Und selbst hartgesottene Wirklichkeitsmenschen können sich dem Gefühl nicht entziehen, dass es etwas Besonderes mit diesem Zeitraum auf sich hat, in dem es üblich ist, über das Gewesene nachzudenken und sich mit dem Kommenden zu beschäftigen – der individuellen Zukunft wie jener des Planeten.
Doch erst der neuerliche Kult um die Rauhnächte, manchmal auch Raunächte geschrieben, hat auch bei Menschen einen spirituellen Nerv getroffen, die vorher nichts mit dieser speziellen Zeit anfangen konnten. Gerade die Vorstellung vom Traumorakel spricht viele an.
Schlechtes ausräuchern, Gutes aktivieren
Mittlerweile wird in den einschlägigen Publikationen als gängiges Schema verbreitet, jede Rauhnacht stehe für einen Monat des nächsten Jahres und offenbare den Schlafenden, was sie jeweils in ihm zu erwarten hätten. Aber das ist nur ein Aspekt der einst als "zwölf heilige Nächte" bezeichneten Zeitspanne am Winteranfang, wenn es dunkel ist und kalt sein sollte.
Neuerscheinungen zum Thema liegen wieder in Stapeln in den Buchhandlungen aus. Frische Titel kommen alljährlich auf den Markt, das Interesse daran ist offenbar immens, das Esoterik-Segment "Rauhnächte" verkauft sich prächtig. Die allein 2024 erschienenen Sachbücher und Romane füllen gewiss zwei Regalmeter. "12 Nächte, 12 Geheimnisse: Der Zauber der Raunächte", "12 Nächte, die dein Leben verändern", "Achtsame Rauhnächte", "Das Rauhnächte-Orakel" oder der Spiegel-Bestseller "Die Rauhnächte als Quelle der Ruhe und Kraft", dieses Jahr in überarbeiteter Fassung zu erwerben, zählen dazu. Nicht zu vergessen das "Kochbuch für die Rauhnächte". Oder "Mit Kindern die geheimnisvollen Rauhnächte erleben".
Unentbehrlich auch der "Rauhnacht-Räucher-Kalender". Einfach irgendetwas auf die glühende Kohle zu werfen war womöglich einst grober Brauch, um den Stall von lästigen Dämonen zu befreien, heute bedarf es für jede Rauhnacht-Gelegenheit bestimmter Harze und Kräuter, Hölzer und Baumnadeln, Wurzeln und Samen, um sie achtsam darauf zu streuen.
Nicht nur gilt es, die satanischen Banden oder ihre rationalisierten Verwandten – schlechte Gedanken und düstere Gefühle – auszuräuchern. Die im Menschen liegenden, oft verborgen schlummernden, aber umso phantastischeren Kräfte sollen aktiviert werden, das ganze regenbogenbunte emotionale Spektrum. Dafür sorgt, so glaubt man, das Räucherwerk von Tonkabohne über Kiefernzapfenspäne bis zu den biblischen Wohlgerüchen von Weihrauch und Myrrhe.
Advent war ursprünglich "kleine Fastenzeit"
Es gehört zu den kulturgeschichtlichen Kuriositäten, dass in den tief in heidnische Epochen zurückführenden Rauhnächten hoch in Kurs steht, was in anderem Zusammenhang verpönt ist. In katholische Gottesdienste mitgeschleppte, nicht dem römischen Glauben anhängende Weihrauchschnupperer rümpfen schließlich oft die Nase und behaupten gelegentlich sogar, es werde ihnen schlecht, wenn das Weihrauchfass geschwungen wird.
Zu Hause dient die erlesene Räucherschale demselben Zweck, aber auch Räucherpfännchen und -töpfchen, Stövchen und Öfchen sind im Einsatz. Der einschlägige Fachhandel bietet in jeder Preisklasse alles, was schlechte Laune vertreibt und ungeahnte Energien herauslockt. Ein ganz legales High, ein erquicklicher Qualmzauber, für viele ein beglückendes Ritual, auch wenn andere schon beim Gedanken daran Hustenreiz verspüren.
Die zwölf Rauhnächte beginnen am 24. Dezember, Heiligabend, und enden am Fest der Heiligen Drei Könige, manche lassen sie auch schon am 21. Dezember anfangen, aber da ist ja eigentlich noch Advent. Was einen esoterischen Neuheiden nicht stören mag, der synkretistisch aufgelegte, Christliches wie Heidnisches respektierende Sinnsucher jedoch hält auseinander, was jeweils eine ganz eigene Stimmung mit sich bringt.
Der Advent, ursprünglich eine "kleine Fastenzeit" zwecks Umkehr und Besinnung, ist in der Gegenwart von vorweihnachtlicher Hektik geprägt, und auch die Nahrungsreduktion, sollte sich jemand zur vorweihnachtlichen Diät entschließen, führt zu Stress. Sogar der Karpfen an Heiligabend ist noch eine Fastenspeise. Erst am Tag danach lässt der traditionstreue Christ es krachen. Der adventliche Wunsch nach Einkehr und Zur-Ruhe-Kommen jedoch hat sich inzwischen auf die nachweihnachtlichen Rauhnächte verlagert.
Nie versiegte Sehnsucht nach Anderwelten
Zwischen den Jahren bestehen größere Chancen, einmal abzuschalten. Und zu sich selbst zu kommen. Vielleicht sogar, das eigene Ich mitsamt Unter- und Überbewusstem neu zu erleben. Dass dies gelingen kann, glauben jedenfalls die Rauhnacht-Begeisterten. Nach innen führt der geheimnisvolle Weg: Das ist ihr Credo, wie es schon das der Romantiker war, die sich um das Jahr 1800 für mystische und magische Konzepte interessierten, die den Menschen in Empfindungswelten jenseits des banalen Alltags trugen.
Märchen und Sagen wurden wiederentdeckt. Maler ließen Elfen tanzen und rückten Wälder, Wiesen, Auen als verwunschene, beseelte, von Geistern bewohnte Natur ins Bild. Seither mögen wissenschaftliche Vernunft und Nüchternheit die Oberhand gewonnen haben, aber die Sehnsucht nach Anderwelten mit ihren eigenartigen Geschöpfen ist nie versiegt. Und je mehr die Amtskirchen an Zuspruch verlieren, umso mehr artikuliert sich das akute Bedürfnis nach dem Numinosen, Überweltlichen, Außerweltlichen anderweitig.
In den Rauhnächten werden die Erinnerungen an all die Geschöpfe wach, die Märchen und Mythen bevölkern. Selbst im nüchternen, von Kaufleuten dominierten Frankfurt trieben sich, so wollen es Sagen und Legenden, übernatürliche Wesen herum und ereigneten sich wunderliche Geschichten, auch wenn es scheint, dass mit dem zunehmenden Wachstum der Stadt die Mythen zurückgedrängt wurden.
Von guten Kobolden
So berichtet Karl Enslin, der an mehreren höheren Schulen in Frankfurt als Lehrer tätig war, in seinem 1856 erstmals herausgekommenen "Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main" vom langen Abschied Rundhütchens aus der Menschenwelt. Einst kam es in die ärmlichen Hütten des Dorfes Niederrad, wo es mit den Kindern spielte und den Bewohnern nicht nur Geschenke, sondern auch inneren Frieden brachte, wie Enslin schreibt.
Rundhütchen alterte nicht, es heilte eine todkranke junge Frau mit einem Kräutertrank und brachte einem gewissen blinden Tobias die Kuh zurück, die ausgerissen war. Der gute Kobold fand auch ein Mädchen wieder, das im Wald Maiglöckchen gesucht hatte und nicht zurückgekehrt war. Die Mutter fand es anderntags in seinem Bettchen, und es erzählte ihr von Rundhütchen, das es nach Hause geleitet hatte.
In der Folge erschien Rundhütchen aber immer seltener. Eines Tages aber soll das Männlein seinen Hut abgenommen haben, um die Stadtleute zu grüßen, die sich nunmehr statt seiner um die armen Niederräder kümmerten, und dadurch seine Zauberkraft verlustig gegangen sein.
Der aufwühlende, wilde Charakter des Übersinnlichen
Auch mitten in der Stadt konnte man Zauberwesen treffen. Wie den buckligen Geiger, von dem Enslin erzählt. Er kam von einer Gesellschaft, wo er aufgespielt hatte, und traf tief in der Nacht "auf dem Markt" eine Reihe junger schöner Frauen, die schmausten und danach Lust auf einen Tanz verspürten.
Sie baten den Musiker, für sie die Saiten zu streichen, und erfreuten sich des Amüsements im Mondenschein. Offenbar handelte es sich um Elfen. Geld hatten sie keines, um den Violinisten zu entlohnen, dafür zauberten sie seinen Buckel weg, und er verwandelte sich in einen blendend schönen jungen Mann, der die hiesige Weiblichkeit in seinen Bann zog. Dass wir es hier mit einem Fall von Bodyshaming zu tun haben, steht auf einem anderen Blatt.
Die Rauhnächte haben auch einen aufwühlenden, wilden Charakter. So wie das Übersinnliche überhaupt. Die Geschichte vom "Brickegickel" erzählt von der Anwesenheit des Teufels in Frankfurt. Er half dem Baumeister der heute Alte Brücke genannten Flussquerung dabei, sie in einer Nacht fertigzustellen, und verlangte dafür das erste Lebewesen, das darüberlief. Der Leibhaftige hoffte auf das kleine Töchterchen des Konstrukteurs, musste sich aber wutentbrannt mit einem Hahn begnügen, den der listige Vater bei Dämmerungsanbruch über die Brücke scheuchte.
Schon der Begriff der "Rauhnacht" verweist auf Diabolisches. Er geht vermutlich auf das mittelhochdeutsche Wort für "haarig" zurück, wie es auch in "Rauchwaren" vorkommt, wie zum Verkauf stehende Pelzbekleidung heißt. Werwölfe treiben nach uraltem Glauben zwischen den Jahren ihr Unwesen, Menschen verwandeln sich in Tiere, es wird gefährlich. Unterdessen bläst Odin zur wilden Jagd, von ihm angeführte göttliche Jäger ziehen über den Himmel. Früher wurde Jungfrauen geraten, zu Hause zu bleiben, wenn die unheimlichen Scharen sich aufmachten, um die Leute in Schrecken zu versetzen.
Eine Zeit außerhalb der Zeit
Nicht davon abschrecken, sich nach draußen zu begeben, lassen sich in der Rauhnächte-Zeit dagegen die Teilnehmer der Frankfurter Stadtevents, die sie auf die Hohe Straße zwischen Frankfurt und Bad Vilbel führen und mit vielerlei Mythen und Gebräuchen vertraut machen.
Auch sanfter Grusel darf sich einstellen, während die Dämmerung hereinbricht und hinter knorrigen Bäumen scheinbar gespenstische Kreaturen hervorlugen. Sämtliche Touren sind in diesem Jahr allerdings schon ausgebucht, immerhin aber gibt es Wartelisten, zu finden unter www.frankfurter-stadtevents.de.
Die Durchbrüche zu anderen Wirklichkeiten, die Tore zu Paralleluniversen, die Pforten in andere Dimensionen werden in der Fantasy-Literatur beschrieben, in den Rauhnächten aber scheinen wir sie im Hier und Heute durchschreiten zu können, in dieser besonderen Zeit, in der möglich wird, was uns sonst verschlossen bleibt. Es ist eine Zeit außerhalb der Zeit, und dieses Empfinden hat auch mit der Einteilung des Jahres zu tun, mit dem Ende des alten und dem Beginn des neuen.
Das Mondjahr ist kürzer als das Sonnenjahr, die Rauhnächte bleiben gleichsam übrig, und auch die Umstellung auf den gregorianischen Kalender, die erst einmal nicht überall vollzogen wurde, trug zur Mystifikation bei. Ob als Weg zur Selbsterkenntnis, als Imagination einer beseelten Natur, als Poetisierung des sonst so trivialen bis anstrengenden urbanen Lebens: In den Rauhnächten scheint eine Welt auf, in der die gewöhnliche Ordnung der Dinge ausgehebelt ist. Dem können in dieser mitunter als finster erlebten Gegenwart viele etwas abgewinnen. Und wer wollte nicht einmal Rundhütchen oder den Elfen begegnen? © Frankfurter Allgemeine Zeitung
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.