Weihnachten im Garten: In Schrebergärten wird nicht nur gegraben, sondern auch verhandelt: Diese grünen Flecken zeigen, wie Regeln und Kompromisse das Miteinander stärken können – auch an Weihnachten.
Weihnachten im Schrebergarten: Vielleicht wäre das gar keine schlechte Idee für eine Gesellschaft mit vielen Wunden. Das Interesse an ihnen jedenfalls ist groß. Als die Rhein-Main-Zeitung im vergangenen Sommer das Zusammenleben in Schrebergärten unter die Lupe genommen hat, entstand ein Text, der in der Jahresauswertung zu den fünf meistgelesenen des Jahres gehört. Vielleicht ist es der unwahrscheinlichste Favorit unserer Leser gewesen, gewettet hätten wir darauf nie. Aber es lassen sich Gründe dafür finden, die es gerade zu den Festtagen am Jahresende noch einmal wert sind, beleuchtet zu werden. Denn Schrebergärten sind weit mehr als Orte des Gärtnerns. Sie sind Spiegelbilder unserer Gesellschaft – manchmal harmonisch, manchmal konfliktgeladen, aber immer voller Potential, um Prinzipien von Gemeinschaft, Demokratie und Integration im Kleinen zu erproben. Nötig wäre es, daran besteht kein Zweifel.
Denn die Debatte um diese Mikrokosmen – ausgelöst zunächst durch einen Leserbrief und einen Kommentar zu schwindender Nachbarschaftskultur, später fortgesetzt durch den weit beachteten Gastbeitrag von Rainer Kilb – zeigt, wie viel wir aus den Kleingärten über das Funktionieren und Scheitern von Gemeinschaften lernen können. In funktionierenden Kleingartenvereinen ist die Gemeinschaft noch intakt: Menschen helfen einander, teilen Ressourcen und schaffen gemeinsam Werte. Doch immer häufiger verkommen diese Oasen zu familiären Abenteuerspielplätzen des Egoismus. Die Folge? Ein Verlust des Gemeinschaftsgefühls. Dabei sind Schrebergärten, wenn sie gut funktionieren, ein Modell dafür, wie Menschen miteinander klarkommen und Verantwortung übernehmen können – ein Gegenentwurf zur individualisierten Gesellschaft. Und wenn sie nicht funktionieren, zeigen sie, was passiert, wenn sich die Dinge in die gegenteilige Richtung bewegen.
Darum war es zunächst dem Leserbriefschreiber gegangen, der alles ins Rollen gebracht hat: Er beklagte, dass Kleingärten immer mehr zu kleinen Orten einer familiären Eventkultur werden, dass kaum noch etwas angebaut wird, dafür aber umzäunte Trampoline aufgestellt werden, in den Gärten Wildwuchs herrsche und die Menschen nicht mehr miteinander redeten. Und er hat damit ein Symptom dessen am konkreten Beispiel beschrieben, woran die Gesellschaft krankt. Dabei könnte man gerade in Schrebergärten etwas dagegen tun.
Regeln als Ausdruck eines sozialen Vertrags
Die Schreber- beziehungsweise Kleingartenbewegung geht auf mehrere Gründungslinien zurück. Für die Schrebergarten- und Naturheilbewegung waren Erholung und Bewegung an der frischen Luft ein Gründungsmotiv zu Zeiten der Industrialisierung. Zeitlich parallel hierzu stand in den sogenannten Armen- und Arbeitergärten die Selbstversorgung im Vordergrund. Die Berliner Laubenkolonien fungierten Ende des 19. Jahrhunderts zugleich als Wohn- und Anbaustandorte für Lebensmittel. In der ehemaligen DDR halfen die "Datschen" dabei, Defizite der Mangelwirtschaft zu kompensieren. Außerdem bildeten sie relativ sichere Rückzugsorte vor staatlicher Kontrolle. 900.000 Schreber- beziehungsweise Kleingärten gibt es, deren Pächter und Besitzer in rund 13.500 Vereinen organisiert sind. Sie sind in ost- und norddeutschen Großstädten präsenter als im Westen und Süden Deutschlands.
Kilb hebt hervor, dass gerade die oft als "kleinlich" verspotteten Regeln der Kleingartenvereine dabei die zentrale Rolle spielten. Sie seien Ausdruck eines sozialen Vertrags, der das friedliche Miteinander gewährleiste. Von Heckenhöhen über Mittagsruhe bis hin zu verpflichtendem Obst- und Gemüseanbau – diese Regeln schafften Struktur und glichen die Interessen verschiedener Nutzergruppen aus. Konflikte, die aus der Missachtung dieser Vorgaben entstünden, seien unvermeidlich, aber sie böten auch eine Gelegenheit, demokratische Verhaltensweisen zu üben: Verhandlungen, Kompromisse und die Akzeptanz gemeinsamer Entscheidungen. Anders formuliert: Im "Großen", in Berlin, in Wiesbaden, aber auch in der Stadtverordnetenversammlung oder im Kreistag geht auch nur das schief, was vorher schon im Kleinen nicht mehr konsensfähig war oder ist.
Veränderungen erfordern Geduld und Dialog
Schrebergärten haben – insbesondere in städtischen Gebieten – zudem eine integrative Funktion, die oft unterschätzt wird. Die Vielfalt an Nationalitäten und kulturellen Hintergründen der Pächter zeigt, wie Integration durch gemeinsames Handeln gelingen kann. In diesem teilöffentlichen Raum müssen sich Menschen auf Regeln einigen, die für alle gelten. Die Kleingartenvereine werden für Kilb so zu "Integrationsagenturen", in denen Diversität und Zusammenhalt geübt werden. Es sind Staatswesen im Miniaturformat. Hier lernt man, dass Freiheit auch Verzicht bedeuten kann, nämlich dann, wenn sie dem Wohl der Gemeinschaft dient. Diese Mechanismen – Partizipation, Regelsetzung und Konfliktlösung – sind essenziell für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft. Im Kleingarten muss Obst und Gemüse angebaut werden. Nadelbäume haben dort nichts zu suchen. Die Hecke darf nur soundso hoch sein. Mittags ist strikt Ruhe zu halten. Da hat Rasenmähen und lautes Hämmern zu unterbleiben, und sogar beim Spielen kreischende Kinder werden als störend empfunden.
Gleichzeitig zeigt sich auch auf der kleinen Scholle, dass Demokratie ständig erarbeitet werden muss. Veränderungen sind möglich, aber sie erfordern Geduld und Dialog. Das sollte man ebenfalls mit Blick auf die bevorstehenden Neuwahlen zum Bundestag im Auge behalten – Kompromisse werden danach notwendig bleiben, gefallen werden sie nicht jedem.
Die moderne "Urban Gardening"-Bewegung versucht übrigens, Teile des Modells der Schrebergärten in urbane Kontexte zu übertragen. Doch während diese Projekte oft Lifestyle-Orientierung ausdrücken, bleibt das soziale und kulturelle Potential der klassischen Kleingärten nicht nur aus der Sicht von Kilb einzigartig. Hier treffen Akademiker auf Arbeiterfamilien, subsistenzwirtschaftliche Praktiken auf Naturästhetik. Wenn hier alles funktioniert, liegt in der Vielfalt die größte Chance. Aber spannender ist in Zeiten wie diesen das Konfliktpotential und noch mehr das, was man im Umgang damit lernen kann.
Dazu lassen sich vier Regeln aufstellen, die nicht nur im Schrebergarten helfen können, sondern auch im Großen ebenso wie im Kleinen, auch in der Familie – ganz besonders an Weihnachten. Erstens: Gemeinschaft braucht Pflege. Ohne aktive Bemühungen um Austausch und gegenseitige Unterstützung verkümmert das soziale Gefüge. Zweitens: Regeln sind notwendig, aber im besten Fall flexibel: Starre Vorschriften schaffen Ordnung, müssen aber an neue Realitäten angepasst werden. Drittens: Integration gelingt durch Teilhabe: Gemeinsame Ziele fördern den Zusammenhalt. Viertens: Demokratie erfordert Übung: Kompromissfähigkeit kann man auch lernen. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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