Tanzfestival Rhein-Main: Fabrice Mazliah hat aus dem, was Frauen singen, Tanz gemacht. "Schwanensee in Sneakers" erzählt Tanzgeschichte., Fabrice Mazliah hat aus dem, was Frauen singen, Tanz gemacht. "Schwanensee in Sneakers" erzählt Tanzgeschichte.

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Im Grunde gibt es gute acht Milliarden Tanzstile und Choreographen. Jeder Mensch kann seinen eigenen Tanz tanzen. So steht es im Programmheft von "Schwanensee in Sneakers". Was die Frage aufwirft, warum denn dann wohl so viele Ethnien und Gruppen ihre eigenen Tänze schaffen und pflegen, von Schuhplattlern über Tango bis Ballett. Oder einerseits etwas ganz Neues schaffen wollen und zugleich andererseits mit dem arbeiten, was schon da ist: Musik, Bewegungen, Geschichten. Gemeinschaft. Es lohnt sich sehr, darüber nachzudenken, womöglich sogar im Tanzen selber.

Insofern hat es ganz gut gepasst, dass zur Halbzeit des Tanzfestivals Rhein-Main sowohl das Stück für Jugendliche als auch die abendliche Premiere für Erwachsene viel mit der Auseinandersetzung mit Tradition zu tun hatten. Fabrice Mazliah, der in Frankfurt lebende Choreograph und einstige Tänzer der Forsythe Company, lässt in "Sheela", seinem Stück für sechs Tänzerinnen und einem locker auf dem Tanzboden gruppierten Publikum, die Performerinnen schreien, summen und vor allem Popsongs weiblicher Stars singen. Diese spiegeln ihren Alltag und ihre Träume wider, wie es Populärmusik tun kann. Dabei adaptieren die Gesänge, die Gesten, die Tänze viel Tradition. Und rebellieren gegen jede Rollenzuschreibung durch Geschlecht – es sei denn, sie sprechen sie selber aus und an, die sechs Frauen, mit Songs von Patti Smith bis Khia.

Zugleich ist die neue, vom Mousonturm koproduzierte Version einer Auftragsarbeit von 2021 für das Ballett der Oper Lyon, wo "Sheela" Teil eines Abends mit Forsythe-Choreographien war, zugleich Teil der Rezeptionsgeschichte, in diesem Fall sogar doppelt. Die Tänzerinnen Marie Albert, Katja Cheraneva, Viktorija Ilioska, Aoife McAtamney, Patscharaporn Distakul und Ophelia Young singen und tanzen zwischen dem im Frankfurt Lab sitzenden und stehenden Publikum, das den neugierigen Befragungen des eigenen und des fremden Körpers zusieht und mechanischer Arbeit, die von Gesang begleitet wird, wie man es aus traditionellen Gemeinschaften kennt. Vom Wunsch nach Berührung, den die Darstellerinnen zu Beginn einer Kollegin nennen, bis zum letzten Purzeln, Winden, Schichten, auch Gewalt, spricht aus "Sheela" eine weibliche Ungeduld, gleichberechtigt zu leben. Es sind Forderungen und Anklagen, auch was den Künstlerinnenberuf angeht, die herausgesungen werden.

Das Erarbeiten und Kommentieren ist Teil des Stücks

Bis das Ganze allerdings Fahrt aufnimmt, kann man wieder darüber staunen, wie selbstverständlich eine künstlerische Gruppe und ein Choreograph annehmen, man müsse als Publikum über weite Strecken unbedingt sehen oder nachempfinden wollen, wie sie in einem zweifellos intensiven Prozess überhaupt erst zu dem gefunden haben, was sie aufführen wollen. Das überaus Achtsame und sehr Langweilige zu Beginn dieses Prozesses hätte auch "Sheela" streichen können.

In "Schwanensee in Sneakers" ist das Erarbeiten und Kommentieren wiederum Teil des Stück. Das Tanzfestival, in dem diesmal besonders prominent Tanz für junges Publikum vertreten ist, hat eine Produktion von "Explore Dance", einem Produktionsnetzwerk für Tanz für junges Publikum, in die Theaterwerkstatt im Zoo eingeladen. "Eine Auseinandersetzung mit Tanz" haben Anna Till, die Tänzerin und Choreographin des Stücks für Zuschauer von zwölf Jahren an, und Regisseurin Nora Otte es im Untertitel genannt. Auf einem kleinen Leuchtband erscheinen die Namen und Daten dessen, was Till sich anverwandelt hat, es sind Meilensteine des zeitgenössischen Tanzes: Mary Wigman, Dore Hoyer, Xavier Le Roy. Wer davon nie gehört hat, wird trotz der Informationen aus dem Off etwas ratlos bleiben. Wer ein bisschen Tanz und Tanzgeschichte kennt, hat mehr davon, aber ist durchaus angeregt, erheitert und kann in Tills Tanz typische Bruchstücke wiederfinden. Von "Schwanensee", dem titelgebenden und wohl berühmtesten klassischen Ballett, weniger. Zur geschickt verfremdeten Musik werden eher die Posen des "Sterbenden Schwans" zitiert. Und eine Stimme aus dem Off behauptet ohne jegliche Einordnung, mit jeder Vorstellung von "Schwanensee" würden rassistische und sexistische Stereotypen wiederholt. Das ist von Pädagogik bis Tanzgeschichte so mit dem Holzhammer vermittelt, dass es einem die Sneakers ausziehen könnte.

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Schwanensee in Sneakers, eine weitere Vorstellung in der Theaterwerkstatt im Zoo Frankfurt am 9. November, 16 Uhr. Weiteres Programm des Tanzfestivals Rhein-Main in Wiesbaden, Darmstadt und Frankfurt täglich bis 17. November.   © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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