Künftige Kirchenpräsidentin: Christiane Tietz tritt 2025 ihr Amt als Kirchenpräsidentin der EKHN an. Im Interview spricht sie über die Konsequenzen aus Missbrauchsfällen, den Wert der Kirchensteuer und eine persönliche Glaubenskrise im Studium.

Mehr News aus Hessen finden Sie hier

Frau Tietz, Sie sind von der Synode gleich im ersten Wahlgang mit 82 von 119 Stimmen gewählt worden. Hat Sie das klare Ergebnis überrascht?

Ich habe natürlich gehofft, dass ich gewählt werde, aber immer gedacht, dass es vielleicht im dritten Wahlgang mit wenigen Stimmen Unterschied passiert. Mich hat das völlig überrascht.

Gibt es in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau den Wunsch nach einer Person an der Kirchenspitze, die als Wissenschaftlerin für die Inhalte der Theologie steht? Weil sich die Kirche vielleicht zu viel mit sich selbst und organisatorischen Fragen beschäftigt hat und darüber die Seelsorge verloren gegangen sein könnte?

Schon in den Vorgesprächen haben viele gesagt: Sie wünschen sich, dass man diese Transformationsprozesse, die doch sehr viel verändern, auch theologisch durchdenkt: Was machen wir da eigentlich? Was bedeutet es für unser Kirche-Sein? Was bedeuten die Entwicklungen in der Gesellschaft? Was verändert eine theologische Perspektive darauf? Was macht es mit unserem Selbstverständnis, dass die Mitgliederzahlen zurückgehen?

Trotzdem müssen sich die Gemeinden in Nachbarschaftsräumen neu zusammenfinden und auf Stellen und Gebäude verzichten. Sie haben davon gesprochen, dass es auf die Inhalte ankommt, für die Gebäude benötigt werden. Sehen Sie Korrekturbedarf?

Ich bin zunächst einmal sehr froh, dass sich viele gemeinsam auf den Weg gemacht und Nachbarschaftsräume gebildet haben. Im Zuge des Zusammengehens der Ortsgemeinden müssen diese jetzt überlegen, welche inhaltlichen Akzente sie jeweils setzen, im Gespräch mit den anderen Nachbarschaftsräumen im Dekanat. Damit nicht jeder eine Jugendkirche anbieten will und andere wichtige Arbeitsfelder wegfallen.

Der Gebäudeprozess muss zeitlich so abgestimmt sein, dass diese inhaltlichen Schwerpunkte noch aufgenommen werden können. Was die Ortsgemeinde und die eigene Pfarrerperson angeht, so ist die Idee des Transformationsprozesses, Bezüge zu Orten und Pfarrpersonen in veränderten Strukturen bewahren zu können. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass die Mehrheit in ihrer Ortsgemeinde an die Kirche gebunden ist.

Es war auch nicht die Kernidee von Luther, dass sich die Gemeinde auflöst.

Die Kirche ist bei Luther die Versammlung der Gläubigen, die sich konkret physisch an einem Ort treffen, und keine virtuelle, abstrakte Idee. Ich sehe nicht, dass der Transformationsprozess diese wesentlichen Elemente aushebelt.

Sie haben gesagt, Sie wollen sich als Erstes mit den Ergebnissen der Forum-Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche befassen. Wie weit geht es außer um Vergangenheitsbewältigung auch um Verhaltensweisen im Hier und Jetzt?

Es wäre eine Illusion zu denken, mit diesem Thema könne man abschließen. Das bedeutet, dass alle Gemeinden, alle Institutionen der EKHN klare Schutzkonzepte brauchen und sie aktiv anwenden.

Was bedeutet das konkret?

Man überprüft etwa, welche Räume es gibt, die wir anders gestalten müssen. Welche Zeiten sind ungünstig, welche Formate müssen wir nochmals überprüfen? Ich bin momentan noch EKD-Synodale. Dort wollen wir nächsten Monat einen einheitlichen Maßnahmenkatalog beschließen, zu dem unter anderem eine Novelle der Gewaltschutzrichtlinie gehört.

Und schon im November, also vor Dienstantritt, gehe ich zur EKHN-Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt. Sie ist der einzige Dienstbereich, der direkt dem Kirchenpräsidenten, der Kirchenpräsidentin zugeordnet ist. Dort will ich noch genauer hören, wo wir stehen. In der EKHN ist das Thema schon seit 2010 auf der Tagesordnung, die Fachstelle selbst gibt es seit 2022.

Im Frühjahr 2025 wird die Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission in Hessen eingerichtet. Dort sind die Evangelische Kirche in Kurhessen-Waldeck, wir in Hessen-Nassau und die Diakonie dabei. Wichtig sind einheitliche Richtlinien in allen Landeskirchen für die Aufarbeitung, aber auch bei Anerkennungszahlungen.

Bei den Fragen, wie man mit weniger Geld auskommt und mit dem Missbrauch umgeht, ist die Kirche in der Defensive. Aber eigentlich müsste die Kirche in die Offensive gehen angesichts der Entwicklung der Mitgliederzahlen und der gesellschaftlichen Herausforderungen.

Der Gebäudeprozess zum Beispiel ist nicht nur defensiv, er läuft unter dem Stichwort "Kirche kann mehr". Wir wollen die Kirchengebäude belebter machen, dort soll mehr stattfinden, sie sollen als Lebensorte öffentlicher und offener sein. Das ist durchaus etwas Offensives. Und wir haben einen Innovationsfonds mit fast vier Millionen Euro, der neue Formate unterstützt. So machen wir derzeit spannende Erfahrungen mit sogenannten Pop-up-Formaten, bei denen die Kirche dort ist, wo sie normalerweise nicht erwartet wird. Etwa beim "Segen to go" am Radweg im Rheingau.

Oder spontanen Trauungen.

Ja. Gleichzeitig gilt: Wenn die Kirche aber nicht mehr dort ist, wo man sie erwartet, ist auch das andere nicht mehr überraschend. Wir müssen auch das Traditionelle weiter pflegen. Es muss nicht überall alles geben. Aber wenn man zum Beispiel klassische Konzertreihen abschaffen würde, würden wir uns keinen guten Dienst erweisen. Als Volkskirche können wir Formate für verschiedene Generationen anbieten und auch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zusammenbringen.

Wie schwierig ist das bei Parteien wie der AfD? Der jetzige Kirchenpräsident Volker Jung hat sie einmal als unvereinbar mit dem christlichen Menschenbild bezeichnet. Sehen Sie eine Chance, solche Leute noch für die von Ihnen vertretenen Werte zu gewinnen?

Bei Parteimitgliedern, die sich klar zur AfD bekennen, finde ich das sehr schwierig. Bei den Wählerinnen und Wählern ist es wahrscheinlich unterschiedlich, warum sie in einer Situation die Partei wählen. Da finde ich wichtig, deutlich zu machen: Gewisse Inhalte, an denen sich die AfD orientiert, ob das jetzt Rassismus oder andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist, widersprechen unseren kirchlichen Überzeugungen. Da gibt es auch keine Kompromisse.

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat gezeigt, dass die Kirchen vor allem als soziale Dienstleister akzeptiert werden. Wie können sie ihre sinnstiftende und spirituelle Rolle zurückerlangen?

Von dem Theologen Wolf Krötke stammt der Satz: "Die Menschen sind den Kirchen in Scharen davongelaufen, wir können sie aber nur einzeln zurückgewinnen." Die Zeiten, in denen die Kirche sagt, so ist es richtig, und alle glauben es, sind vorbei. Ich würde überhaupt eher von Glaube als von Sinnstiftung sprechen. Das funktioniert nicht durch allgemeine Verlautbarungen, sondern nur über den persönlichen Kontakt. Wenn man Menschen kennenlernt, die davon erzählen, was ihnen der Glaube in ihrem Leben bedeutet.

Als Theologin ist für mich wichtig, dass man als Kirche nicht nur allgemein von Spiritualität spricht, sondern dass es um den Glauben an Gott geht. Wenn es nur heißt, da ist etwas Größeres und ihr verdankt euch nicht euch selbst, sind wir zu diffus unterwegs.

Ich selbst habe in meinen theologischen Arbeiten immer dafür eingestanden, dass man als christliche Theologin von Gott spricht, und zwar von dem Gott, wie er in den biblischen Texten erzählt wird, zu dem man beten kann, mit dem man sich auseinandersetzen und mit dem man streiten kann. Der eine Kontur hat.

Sie haben gesagt, dass Sie selbst im Studium in eine Glaubenskrise geraten sind. Was hat sie ausgelöst, und wie sind Sie damit umgegangen?

Das hing direkt mit dem Theologiestudium zusammen. Ich dachte eigentlich, so wie ich den Glauben in der Gemeinde kennengelernt habe, ist es richtig, und alles andere ist falsch. Dann hatte ich noch hier in Frankfurt eine Vorlesung in Theologiegeschichte. Da gab es plötzlich ganz viele verschiedene Positionen, und zwar schlaue Positionen von Menschen, die sich als Christinnen und Christen verstehen. Das hat mich fundamental irritiert. Ich habe gemerkt, wie vielfältig der biblische Text ist. Da meinen Weg zu finden war schwierig.

Mir haben die grandiosen Vorlesungen von Eberhard Jüngel geholfen. Zu merken, da kommt jemand in den Raum, der blitzgescheit jede Frage stellt und eben nicht sagt, da darf man nicht drüber nachdenken, sonst geht der Glaube kaputt. Und gleichzeitig fromm war. Ich habe gespürt, er glaubt an Gott und denkt gleichzeitig nach. Das hat mich befreit. Außerdem habe ich in Tübingen eine Gemeinde gefunden, in der beides zusammenkam. Aber es war ein langer Prozess.

Geht es nicht den allermeisten Menschen, die sich von der Kirche abwenden, eben doch ums Geldsparen, wenn sie ehrlich zu sich selbst wären? Ist daher die Kirchensteuer langfristig das richtige Konzept?

Die Kirchensteuer wird in Umfragen zum Kirchenaustritt als ein Argument genannt. Das andere ist, dass den Menschen die Kirche biographisch unwichtig geworden ist oder sie es nie war. Ich glaube, ein Problem im Verständnis der Kirchensteuer ist, dass jemand auf das Jahr zurückblickt und sagt, ich zahle Kirchensteuer und bin nie in der Kirche gewesen. Es lohnt sich eigentlich nicht.

Die Kosten-Nutzen-Rechnung geht nicht auf.

Deshalb muss die Kirche deutlicher machen, dass Kirchensteuer nicht die Mitgliedschaftsgebühr in einem Verein ist, sondern eine Form von christlicher Nächstenliebe. Weil man die breite kirchliche Arbeit finanziert und so die Gesellschaft unterstützt.

Zugleich müssten wir zeigen: Bei Ihnen im Ort, da gibt es dieses kirchliche Altersheim, diese evangelische Kindertagesstätte, davon werden soundsoviel Prozent direkt aus Kirchensteuermitteln bezahlt. Und es sind eben evangelische Kindertagesstätten, in denen das Kirchenjahr gefeiert wird, wo die Kinder mit christlichen Liedern in Kontakt kommen. Oder die diakonische Arbeit, die von christlichen Werten getragen wird.

Ohne Kirchensteuer gäbe es mehr Veränderungsdruck.

Die Einschnitte, mit denen wir uns jetzt beschäftigen, sind durchaus gravierend. Wir müssen zum Beispiel bis 2030 bei den Pfarrerinnen und Pfarrern 30 Prozent der Stellen abbauen.

Sie haben vom Selbstverständnis der EKHN als politische Kirche gesprochen. Es gibt aber auch Menschen, denen ihre evangelische Kirche zu politisch ist.

Viele denken bei Politik gleich an Parteipolitik. Darum geht es aber nicht. Mir ist wichtig, bestimmte politische Grundthemen wie Demokratie, Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit immer wieder anzusprechen. Daran zu erinnern, dass im Krieg auf beiden Seiten Menschen sterben und das Ziel immer sein muss, dass es zum Frieden kommt. Das ist nicht Politikmachen, sondern Erinnern an christliche Überzeugungen, die auch für unsere demokratische Gesellschaft zentral bleiben müssen. Die prophetische, an Grundsätze des Zusammenlebens erinnernde Rolle ist auch eine Aufgabe der Kirche.

Was hat Sie bewogen, sich als Kirchenpräsidentin zu bewerben?

Das war keine Initiativbewerbung. Die Mitglieder der EKHN sollten Personen vorschlagen, und von diesen hat die Auswahlkommission eine bestimmte Zahl aufgefordert, sich zu bewerben. Mein Lebenslauf zeigt, dass ich immer schon eine universitäre Theologin war, die sich sehr in der Kirche engagiert hat. Ich war im Rat der EKD, ich war in der EKHN-Synode.

Interessieren Sie die Artikel der F.A.Z.?
Uneingeschränkter Zugriff auf diesen und alle weiteren zahlungspflichtigen F+ Inhalte auf FAZ.NET. Jetzt Abo abschließen.

Ich verstehe meine theologische Wissenschaft als eine kirchenbezogene Wissenschaft. Wenn die Kirche mich fragt, ob ich mich einbringe, mache ich das. Ich bin Frankfurterin und komme gewissermaßen nach Hause, die Region ist mir vertraut. Ich hätte es in keiner anderen Landeskirche gemacht. Und ich freue mich sehr darauf.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.