Das nervt: Der Wunsch nach einer handlungsfähigen Regierung darf nicht zulasten demokratischer Qualitätsstandards gehen, meint der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder.
Herr Schroeder, worüber haben Sie sich zuletzt besonders geärgert?
Über die Debatte um Neuwahlen. Auch wenn der von Bundeskanzler Scholz vorgelegte Zeitplan nicht klug war, hat mich der dadurch ausgelöste Überbietungswettbewerb hinsichtlich schneller Neuwahlen schon sehr geärgert. Denn die Organisation von Wahlen baut auf sozialen Prozessen auf, an denen unzählige Institutionen und Akteure beteiligt sind. Allein Frankfurt braucht für die Bundestagswahl rund 4600 ehrenamtliche Wahlhelfende, 40 Prozent der Wahlkreiskandidaten stehen noch nicht fest. Das BSW hat nicht einmal alle notwendigen Landesverbände gegründet. Und nicht etablierte Parteien benötigen die Überprüfung durch die Ämter. Ja, man kann und sollte vieles beschleunigen, aber wenn es nicht funktioniert, ist auch keinem geholfen.
Woran liegt es?
Verfahrensfragen sind Machtfragen. Jede Partei empfindet einen bestimmten Zeitpunkt als für sie vorteilhaft. Aber mal ehrlich, über den gemeinsamen Rahmen braucht es Konsens. Man sollte nicht gleich den Rücktritt der Bundeswahlleiterin fordern, weil man die von ihr angedeuteten Schwierigkeiten als irrelevant erachtet. Hinter dieser Haltung steckt eine Geringschätzung der eigenen Tempostruktur der Politik. Ein umfassender Willens- und Entscheidungsprozess in einer Massendemokratie braucht Zeit. Es ist klar, dass wir angesichts der schwierigen Lage des Landes, im Kontext internationaler Unsicherheiten, bald eine handlungsfähige Regierung brauchen. Aber bitte nicht zulasten demokratischer Qualitätsstandards.
Wenn Sie drei Wünsche frei hätten ...
Erstens sollten wir bald eine voll handlungsfähige Regierung haben. Zweitens sollten wir gut erklären, warum es sinnvoll ist, dass Willens- und Entscheidungsbildung in Demokratien Zeit brauchen. Drittens deutlich machen, dass "schneller, höher und weiter" für demokratische Prozesse schlechte Indikatoren sein können.
Und was war gut?
Trotz unterschiedlicher Ausgangslage waren die Konfliktpartner schnell und überzeugend in der Lage, sich zu einigen.
Welchen Ratschlag würden Sie wem gerne geben?
Die Bürger möchte ich darauf hinweisen, dass es in unserem demokratischen System festgelegte Abläufe gibt, die belastbar sind. Der Politik möchte ich anraten, Eile zu vermeiden. Ansonsten treibt man weitere Menschen in die offenen Arme populistischer Kräfte, die nur einfache Lösungen versprechen. © Frankfurter Allgemeine Zeitung
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