Haushalt: Nach einer neuen Hochrechnung ist das Haushaltsdefizit der Landeshauptstadt Wiesbaden doppelt so hoch wie geplant.

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Die Stadt gerät in eine finanzielle Krise, wie schlimm es wirklich steht, weiß auch die Kämmerei nicht.

Die Landeshauptstadt Wiesbaden gerät schneller und tiefer in eine finanzielle Krise, als es selbst die skeptischsten Kommunalpolitiker im Stadtparlament bislang befürchtet hatten. Kämmerer Hendrik Schmehl (SPD) stellte auf der jüngsten Sitzung des Finanzausschusses eine Hochrechnung vor, nach der sich im laufenden Haushaltsjahr das Defizit auf 82 Millionen Euro erhöhen wird. Das Defizit würde damit 42,6 Millionen Euro über dem veranschlagten Budget liegen.

Der Kämmerer rechnet zwar mit Erträgen in Höhe von 1,63 Milliarden Euro und damit fast 58 Millionen Euro mehr als bislang kalkuliert. Doch die Ausgaben liegen mit fast 1,75 Milliarden Euro rund 94 Millionen Euro über dem beschlossenen Plan. Bemerkenswert ist, dass den finanziellen Absturz auch erwartete Gewerbesteuereinnahmen in Rekordhöhe nicht abfangen können. Laut Hochrechnung hofft die Stadt in diesem Jahr auf Steuereinnahmen in Höhe von 431,7 Millionen Euro. In den Jahren zuvor hatte Wiesbaden 395 Millionen (2022) und 422 Millionen Euro (2023) eingenommen.

Größte Last liegt bei Sozialausgaben

Vermutlich muss die Stadt trotz dieser erfreulich sprudelnden Steuerquelle mit einem noch höheren Defizit rechnen. Denn Kämmerer Schmehl muss die kommunalen Pensionsrückstellungen wegen der tariflichen Steigerungen bei der Besoldung im öffentlichen Dienst deutlich erhöhen. Ein zweistelliger Millionenbetrag ist sicher, womöglich summiert sich diese Summe sogar auf 50 Millionen Euro.

Ursachen für das absehbar stark erhöhte Jahresdefizit nannte Schmehl im Ausschuss nicht, obwohl der größte Anteil dem Sozialdezernat von Patricia Becher (SPD) zuzuordnen ist. Zudem ist die Hochrechnung der Kämmerei nach eigenem Eingeständnis komplex und unscharf. Bei der Haushaltskontrolle sei die Stadt "auf einem Auge blind", sagte Schmehl, und Kämmereileiterin Dagmar Sauer nannte die Finanzprognose ungefähr "so verlässlich wie die Wettervorhersage".

Das liegt laut Kämmerei unter anderem an der unzureichenden, jedoch komplexen und aufwendigen Pflege des Wiesbadener Haushaltsmanagementsystems durch die jeweiligen Dezernate. Diese Unsicherheit müsse abgestellt werden, um den Stadtverordneten ein Gegensteuern überhaupt erst möglich zu machen, so der FDP-Fraktionschef Christian Diers. Achim Sprengard (Volt) nannte die Lage "rabenschwarz", wenn sich die Prognose bewahrheite. Nach Ansicht des SPD-Fraktionsvorsitzenden Silas Gottwald treffen "die Krisen der Welt" auch Wiesbaden in voller Härte.

Einigung des Viererbündnisses steht noch aus

Die CDU sieht durch das ausufernde Defizit die Gefahr des vorzeitigen Abschmelzens der gesamten Rücklage und die Notwendigkeit der Aufstellung eines Haushaltssicherungskonzepts. Die finanzielle Hiobsbotschaft des Kämmerers trifft das Linksbündnis aus Grünen, SPD, Linke und Volt mitten in den Haushaltsberatungen. Innerhalb der Kooperation ist die Stimmung angespannt, seit Indiskretionen aus den Beratungen über den Etat des nächsten Jahres an die Öffentlichkeit drangen und die Wohlfahrtsverbände Grüne und Volt an den Pranger gestellt haben.

Unter dem Slogan "Finger weg vom Sozialetat" fand vor der Ausschusssitzung eine Demonstration statt. In der Bürgerfragestunde, die jeder Sitzung vorgeschaltet ist und an der zahlreiche Demonstranten teilnahmen, zierten sich die Vertreter der Kooperation, verlässliche Antworten auf Fragen zu Ausstattung der Schulen und der künftigen Förderung freier Träger zu geben. Felix Kissler (Die Grünen) sprach von "Mangelverwaltung", einem "engen Korsett" und einer "äußerst angespannten" Finanzlage der Stadt. Eine seriöse Aussage zum Etat 2025 sei noch nicht möglich, weil sie die laufenden Verhandlungen sabotieren würde.

Auch die übrigen Sprecher des Bündnisses hielten sich in öffentlicher Sitzung an die vereinbarte Vertraulichkeit. Noch scheint völlig offen, ob und wann sich das Viererbündnis auf einen Haushalt einigen kann. Dem Vernehmen nach beklagten vor allem die Grünen eine Unwucht im Haushalt, wenn es um die Zuweisung von Mitteln für bedeutsame Projekte geht.

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Nach Ansicht der Christdemokraten liegen im Bündnis schon jetzt die Nerven blank. Vor allem im Sozialdezernat von Becher gebe es ein "galoppierendes Defizit". Die Bündnispartner hätten das Wohl der Gesamtstadt längst aus dem Blick verloren und verfolgten nur noch eine "Klientelpolitik".  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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