Rattenplage in Städten: Ratten haben sich in vielen Großstädten so stark vermehrt, dass sie in New York sogar als "Staatsfeind Nummer 1" gelten. So verzweifelt ist man in Frankfurt noch nicht.

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Drei Meter geht es in die Tiefe. Ein schmaler dunkler Schacht. Daniel Minnert kniet davor und richtet eine Taschenlampe auf den Grund des Kanals. "Da sind sie, die schwarzen Rattenkötel", sagt er zu seinem Kollegen Fritz Lebeau, mit dem er soeben den Schacht freigelegt hat, um das zu suchen, was die internationalen Großstädte seit Jahren in zunehmendem Maße bewegt: die Ratten in der Stadt.

In New York etwa soll sich die Zahl der lästigen Nagetiere in den vergangenen Jahren nahezu verdoppelt haben. Der Bürgermeister der amerikanischen Metropole, Eric Adams, bezeichnet die Ratten sogar als "Staatsfeinde Nummer eins". Auch Paris klagt über ein Rattenproblem. In der französischen Stadt wird die Zahl der Nager auf rund sechs Millionen geschätzt – das bedeutet, dass es fast dreimal so viele Ratten wie Einwohner gibt.

Nicht nur in der Kanalisation treten die Tiere auf. Sie huschen über Straßen, krabbeln in Mülleimer, reißen Löcher in herumliegende Müllsäcke und vermehren sich in schier unglaublicher Zahl.

Auch deutsche Großstädte sind davor nicht gefeit. In Frankfurt etwa fallen die Tiere in Grünanlagen, an Bahnhöfen und in Wohnsiedlungen auf. Zumindest gefühlt ist auch dort die Zahl der Nager gewachsen – obwohl es keine belastbaren Zahlen gibt und die Stadt konsequent gegen die Tiere vorgeht.

Daniel Minnert ist ausgebildeter Schädlingsbekämpfer für Wirbeltiere im Kanalsystem, so lautet seine Berufsbezeichnung. An diesem Morgen ist er wieder unterwegs und legt Giftköder aus. Auf der Brust des Fünfunddreißigjährigen prangt das Logo der Frankfurter Stadtentwässerung.

Viermal in der Woche ist er im Einsatz, um die Population unter Kontrolle zu halten. Eine vollständige Ausrottung, sagt er, sei unmöglich. Mit einer Tragzeit von rund drei Wochen und einer Lebenserwartung von bis zu zwei Jahren seien die Nager extrem widerstandsfähig. Das Ziel sei es deshalb, die Population zumindest zu begrenzen.

"Das sind hochintelligente Viecher"

Minnerts "Revier" ist der Kanalbezirk I, der rund die Hälfte des gesamten Frankfurter Kanalnetzes ausmacht. Ein Gewirr von etwa 1600 Kilometern mit mehr als 30.000 Schächten. Wird in der Nähe eines Kanaleingangs eine Ratte gemeldet, sind Minnert und seine Kollegen innerhalb von 24 Stunden vor Ort. Ihr Arbeitstag beginnt um 6.45 Uhr. So auch an diesem Morgen.

Ihr Augenmerk richtet sich auf eine grüne Box mit gelbem Deckel. Bis vor einigen Jahren habe man die Köder noch mit Draht durchstochen, sie in den Schacht hinabgelassen und das andere Ende oben befestigt, sagt Minnert. Seit etwa fünf Jahren verwende man die grünen Boxen.

Der entscheidende Unterschied ist die Unterseite. Dort befindet sich eine schwarze Klappe, die normalerweise geöffnet ist, um den Zugang zum Rattenköder im Inneren zu ermöglichen. Bei starkem Regen treibt die Kunststoffklappe auf, schließt den Eingang und soll so verhindern, dass das Rattengift ins Abwasser gelangt.

Mit einer silbernen Teleskopstange zieht Daniel Minnert die Köderbox vorsichtig an die Erdoberfläche. Fritz Lebeau greift sich einen braunen Holzhandfeger und beseitigt den Schmutz sowie die Spinnweben, die sich seit der vergangenen Kontrolle angesammelt haben. Nachdem er den Deckel abgeschraubt hat, zieht Minnert den Köder heraus und zeigt mit dem Finger auf die kleinen Nagespuren, die an den Kanten des zylinderförmigen, fast faustgroßen Köders zu sehen sind. Diese Bissmarken sind nicht das einzige Zeichen für die Aktivität von Ratten im Frankfurter Untergrund.

Im gelben Deckel der Box steckt ein schwarzer Sender. "Der funktioniert wie ein Bewegungsmelder", sagt der Schädlingsbekämpfer. Er erfasst die Bewegungen, die innerhalb der Box stattfinden, und sendet die Daten an einen Computer, den sie stets bei sich haben. Dort sieht man, dass allein in den vergangenen sieben Tagen die Detektoren in der Stadt rund 3000 Bewegungen registriert haben. Allerdings sind die Melder sehr empfindlich, sodass 3000 Bewegungen nicht unbedingt auf ebenso viele Ratten schließen lassen. Aber er zeigt: Es wuselt im Untergrund.

Kanalisationen ein nahezu perfekter Lebensraum

Der Rattenköder muss regelmäßig gewechselt werden. Entweder weil er vollständig aufgefressen wurde oder weil er anfängt zu schimmeln und durch einen frischen ersetzt werden muss. Jeder dieser Köder enthält ein Rattengift, das die Blutgerinnung der Tiere herabsetzt und somit zu ihrem Tod führt. Dieser tritt jedoch nicht sofort ein. "Das sind hochintelligente Viecher", sagt Lebeau. Wenn sie sofort stürben, schlössen die Ratten daraus, dass es sich um einen Giftköder handele und hielten Abstand.

In der Kanalisation finden Ratten ungestörte Rückzugs- und Nistmöglichkeiten und ernähren sich von Küchenabfällen, die über die Kanalisation entsorgt wurden. Ansonsten finden sie ihre Nahrung auf der Straße, vor allem in herumliegendem Müll. Dass die Stadtentwässerung die Ratten bekämpft, liegt daran, dass die Tiere mit vielen Krankheitserregern in Kontakt kommen und diese über Urin und Kot auf Lebensmittel, andere Tiere und Menschen übertragen können.

Während Daniel Minnert den orangen Sprinter der Stadtentwässerung durch die Straßen im Frankfurter Norden steuert, weist er immer wieder auf den Unrat am Straßenrand, überquellende Mülltonnen und Essensreste hin, die dort herumliegen. Das ist ein Problem. Denn wenn die Ratten genug Nahrung auf der Straße fänden, sagt Minnert, fräßen sie die Köder nicht mehr. Weitere Ursachen für Rattenbefall seien Efeupflanzen, die an Hauswänden wüchsen, sowie Komposthaufen mit Essensabfällen. Hier endet jedoch die Zuständigkeit von Minnert und Lebeau.

Besonders während Sommermonaten hunderte Meldungen

"Grundsätzlich ist es die Aufgabe der Grundstückseigentümer und Verwalter, bei Rattenbefall tätig zu werden", heißt es beim Frankfurter Ordnungsamt. Jedes Jahr melden sich dort mehrere Hundert Menschen, die berichten, Ratten im Stadtgebiet gesehen zu haben. Vor allem im Sommer. Das Ordnungsamt geht jeder Sichtung nach. Zudem werden die jeweiligen Eigentümer informiert und aufgefordert, die Ratten zu bekämpfen.

Typische Anzeichen für einen Rattenbefall sind Kotspuren, nächtliche Geräusche und angenagte Gegenstände. Die Zahl der Meldungen, die beim Ordnungsamt eingehen, ist den Angaben zufolge jedoch kein verlässliches Indiz für ein erhöhtes Rattenaufkommen, da sich die Schilderungen mitunter auf denselben Ort beziehen. Eine offizielle Schätzung zur Rattenpopulation in der Stadt existiert nicht.

Währenddessen wechseln Minnert und Lebeau weiter die Köder aus. Es ist ruhig in dieser Straße im Wohngebiet. Passanten lassen die beiden Männer arbeiten. Früher am Morgen hatte ein älteres Ehepaar die Arbeiter freundlich gegrüßt. Eine Wohltat für Minnert und Lebeau. Denn nicht alle Bürger hätten Verständnis für ihre Arbeit. "Sobald wir am Schacht stehen, geht das Theater hinter uns los", sagt Lebeau.

Wenn die Autos nicht weiterfahren könnten, fingen die Fahrer oft an zu hupen und zu pöbeln. Minnert vermutet, das liege daran, dass ihre Tätigkeit unter der Erde stattfinde und somit für andere Menschen unsichtbar sei. Gelegentlich kämen auch Passanten zu ihnen an den Schacht und erkundigten sich nach ihrer Arbeit. "Dann erklären wir das natürlich gern", sagt Lebeau.

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Daniel Minnert sieht das ähnlich: "Das Hauptproblem ist der Müll, und der kommt durch den Menschen." Er zuckt mit den Achseln. "Man kann nur an die Gesellschaft appellieren, besser mit der Umwelt umzugehen." Nachdem Schachthaken und Handschuhe wieder im Laderaum verstaut sind, steigen Minnert und Lebeau wieder ins Auto. Auf geht es zur nächsten grünen Box.  © Frankfurter Allgemeine Zeitung

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