Bin ich jetzt eigentlich zu alt oder zu jung für ein Punk-Konzert? Zu jung jedenfalls, um in irgendeiner Form dabei gewesen zu sein.

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Als Julie Burchill, die damals maßgebliche Chronistin der Bewegung, Punk im Dezember 1977 schon wieder für tot erklärte, war mir – dritte Klasse Grundschule im Unterallgäu – noch längst nicht aufgefallen, was da von New Yorks Lower East Side nach London geschwappt war. Bei uns zu Hause lief "Udo 77" und Baccara. Zum Glück verstand ich auch nicht, was "Yes Sir, I Can Boogie" bedeutete.

In der Schlange, die sich vor der Live Music Hall die Ehrenfelder Lichtstraße entlang zieht, komme ich mir trotzdem alt vor. Amyl and the Sniffers, die australische Band, die hier an einem Montagabend den Saal ausverkauft, spielt Punkmusik mit einer unbedarften Freude, als wäre sie just passiert. Amyl and the Sniffers ist sogar derart Punk, dass sie erst durch Musikjournalisten (falls es die noch gibt) erfahren haben will, was sie da auf ihren Instrumenten fabriziert. Die ersten britischen Punkbands nannten ihre Musik, bevor sie das bekannte Label verpasst bekamen, schlicht "Working Class Music".

Und das trifft wohl auch das Selbstverständnis von Amy Taylor und ihrer drei Wohngemeinschaftsgenossen aus Melbourne. Sie sei ja nun beinahe berühmt, stößt Taylor während einer ihrer wenigen Zwischenansagen aus. Ihr australischer Akzent ist schwer genug zu verstehen, dass die Sätze aus ihr heraussprudeln, wie aus einer geschüttelten Mineralwasserflasche macht es nicht einfacher. Aber dann sagt sie irgendetwas darüber, dass sie jederzeit wieder im Supermarkt anfangen könnte. Scheißegal. Darauf käme es nicht an.

Aber worauf denn dann?

Inzwischen habe ich mich nach vorne vorgearbeitet, neben mir ein Punkerpärchen, mit Irokesenschnitt und allem. Und ungefähr in meinem Alter. Na also. Prompt geht es los, C.O.F.F.I.N., die Vorband aus Sidney, hat sich wegen des besseren Effekts bereits im Dunkeln in Position begeben. Nach einer Handvoll AC/DC-zertifizierter Gitarrenriffs haben sie das Publikum auf ihrer Seite. Der Drummer singt, nein bellt, mit offenem Hemd, er trägt fingerdicke Brillengläser und Vokuhila, besser kann man nicht aussehen. Googelt man die Band, muss man sich das Cover ihres ersten Albums "Piss Up" ansehen. Darauf sitzen die Musiker auf einer öffentlichen Toilette und pinkeln sich scheinbar selbst in den Mund (das Bild ist strategisch an er richtigen Stelle beschnitten). Das ist Punk.

Kurze Umbaupause, dann schlendern Amy Taylor und ihrer Sniffers auf die Bühne, zum 90er-House-Klassiker "Gypsy Woman", das ist fast noch ein bisschen mehr Punk. Taylor trägt ihren Vokuhila wasserstoffblond, ihr knappes zweiteiliges Kostüm ist aus Goldlamé und sieht aus, als hätte sie es Kylie Minogue aus der Grabbelkiste geklaut. "Ich bin klein, ich bin schüchtern, ich bin verkorkst", spuckt sie ins Mikrofon, wischt Speichelfäden mit dem Handrücken am Höschen ab. "Ich bin verdammt hässlich/Geh‘ mir aus dem Weg/Fass mich nicht an, verdammt!" Ihre Stimme klingt, wie aus einer Druckluftfanfare gepresst, wie Minnie Maus nach einer Stange Zigaretten.

Auch im Publikum muss jemand auf die Hupe gedrückt haben. Es gibt kein Moshpit, die ganze Live Music Hall ist eine Pogogrube. Plastikbecher fliegen auf die Bühne, das ausgeschüttete Bier bildet Parabeln. Jemand sucht seine Brille. Die Band quittiert den Aufruhr völlig unerschüttert. So sieht es immer aus, sobald sie in die Saiten greifen.

Musik wie ein Poppers-Rausch

"Amyl" ist in Australien das, was man in Deutschland Poppers nennt, ein kurzer chemischer Rausch aus der Dose, flüchtig, billig, Kopfschmerz erzeugend. Exakt so klingt das Quartett aus Melbourne. Seine Songs setzen sich aus Pub-Rock-, Punk-, Glam- und Powerpop-Zitaten der 1970er Jahre zusammen. Wenn ich zu alt bin, dann sind die Sniffers viel zu jung für ihre Pastiche-Musik. Aber sie steigt einem trotzdem direkt zu Kopf. Weil die Bandmitglieder ihre Einflüsse wahrscheinlich gar nicht so genau benennen können. Weil sie einfach loslegen und bevor jemand auf die Idee kommt, hier irgendetwas zu analysieren, längst fertig sind.

Das Tempo bleibt fast konstant hoch. Und wenn die Band ausnahmsweise einmal in einen Marschrhythmus verfällt, wie im Refrain von "Knifey", dann, weil Amy etwas Wichtige zu verkünden hat: "Alles, was ich je wollte, war ein Spaziergang im Park/ Alles, was ich je wollte, war nach Einbruch der Dunkelheit am Fluss zu spazieren." Ein Refrain, den jede Frau mitbrüllen kann. Wie Amy trotzdem sicher nach Hause kommt? "Die Nacht bricht herein, mein Messerchen kommt heraus."

In der Live Music Hall darf frau sich sicher fühlen. Ein allzu rücksichtsloser Rempler wird von zwei Security-Schränken aus der Halle begleitet. Ansonsten herrscht jene wundersame Solidarität, die man immer nur auf den ausschweifendsten Konzerten findet. Darauf kommt es an.

Ein verschwitzter Mann mit Wollmütze stolpert aus dem Gewerk der Körper auf mich zu, sein Turnschuh hängt nur noch an den Zehen. Er stützt sich auf meine linke Schulter, die Frau des Punkerpärchens fasst meinen rechten Arm, wir bilden einen kleinen Bannkreis. Der Schuh sitzt wieder, der Wollmützenträger fällt mir in die Arme, gibt mir ein Küsschen auf die Wange. Und die nette Irokesendame hebt die Handfläche zum High Five.

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Eine Stunde im Hochdruck geht schnell vorüber. Amy posiert zum allgemeinen Gejohle mit ihren Muskeln, schiebt ihren Gitarristen zum Solo an die Rampe. Zum Abschied erklingt, kein Witz, "Yes Sir, I Can Boogie".

Kann ich auch, jawohl, mein Herr. Punkerprüfung bestanden, Alter egal.  © Kölner Stadt-Anzeiger

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