An einem Vormittag in diesem Jahr, kurz nach 9 Uhr, steht Peter Förster (Name geändert) im Trainingsanzug in seinem Wohnzimmer.

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Er hält eine Tasse Kaffee in der Hand und schaut aus dem Fenster. Der 53-jährige Unternehmensberater, verheiratet, ein Kind, lebt in einer kleinen Stadt in der Nähe von Köln. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen.

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Förster sieht, wie ein Auto parkt. Zwei Männer steigen aus, die er nicht kennt. Sie wirken zunächst etwas unschlüssig, dann plötzlich steuern sie zielstrebig auf sein Haus zu. "Okay", ahnt Peter Förster und bewegt sich langsam zur Haustür, "das wird ernst".

Köln: Polizei rollt Cold Case von 1992 wieder auf

Die Männer zeigen ihre Dienstmarken, sie stellen sich als Polizisten vor. Kriminalpolizei. In diesem Moment bricht die Vergangenheit mit voller Wucht in Peter Förster Leben ein. Sie arbeiteten an dem Cold Case seiner Schwester, sagen die Beamten. "Wir würden gerne mal mit Ihnen sprechen."

Andrea, seine acht Jahre ältere Schwester.

In einer eiskalten Januarnacht 1992 lag die Postangestellte mit lebensgefährlichen Verletzungen auf einem Radweg gegenüber dem Melatenfriedhof an der Aachener Straße in Köln. Ein Taxifahrer fand sie, sie war nicht mehr ansprechbar und starb wenig später im Krankenhaus. Bei der Obduktion stellten Rechtsmediziner mehrere Stichverletzungen fest. Die 28 Jahre alte Andrea W. wurde getötet. Aber von wem und warum – das ist bis heute ein Rätsel.

Für Peter Förster kommt der plötzliche Hausbesuch der Polizei an jenem Sommervormittag völlig überraschend. Seit Jahrzehnten hat er nichts mehr von den Ermittlungen gehört. Hat immer versucht zu verdrängen, sagt er – "nicht meine Schwester, sondern den Horror, den Schock." Förster nennt das "reinen Selbstschutz".

So lange sich Leute darum kümmern, ist meine Schwester nicht wirklich tot

Peter Förster

Nicht einmal seiner Ehefrau hat er bis zum Besuch der beiden Ermittler von dem Mord an Andrea erzählt. Die Polizisten und jetzt der "Kölner Stadt-Anzeiger", sagt Peter Förster, das seien die ersten, mit denen er ausführlich spreche. Er sei froh, dass die Kripo den Fall noch einmal aufrolle – und dass die Medien mitzögen. "So lange sich Leute darum kümmern", sagt er, "ist meine Schwester nicht wirklich tot."

Erinnerungen an sie, an die schöne Zeit, an die Familienurlaube im italienischen Lignano Sabbiadoro zum Beispiel, daran, wie sie ihn einmal bis zum Hals im Sand eingebuddelt hat, wie er mit Andrea auf einer Luftmatratze in der Adria paddelt, die hat er zwar gut im Gedächtnis. Aber in seinem Haus hängt kein einziges Foto seiner Schwester. "Das würde mich zu stark belasten."

Familie versuchte nach Mord an Andrea irgendwie weiterzuleben

In Kartons auf dem Speicher liegen Andreas hochhackige Schuhe, die sie zu festlichen Anlässen trug, Fotos, ihr Schmuck. "Aber wenn ich mal eine Kiste öffne, gucke ich mir das alles ganz nüchtern an", sagt Peter Förster. "Ich halte das möglichst von mir weg, sonst komme ich schwer durch den Tag." Wegwerfen wolle er die Sachen aber auch nicht. "Niemals, das ist doch meine Schwester."

Es sei manchmal so, dass er ein Foto von Andrea betrachte und sein Gehirn ihm sage: Die wohnt jetzt in Spanien. "So dass man gar nicht näher darüber nachdenkt, was in dieser einen Nacht geschehen ist. Dass man dieses Ereignis ausblendet. Den Tag aus dem Kalender rausschneidet."

Mit seinen Eltern habe er zwar immer mal wieder über Andrea geredet, aber nie über die Tat. Seine Mutter lebt noch, sein Vater ist inzwischen gestorben. Wie ein Stillschweigeabkommen sei das gewesen, sagt Peter Förster. "Jeder von uns hat versucht, sein Leben danach irgendwie weiterzuleben." Vielleicht habe die Familie nur deshalb funktioniert. Andere zerbrechen. "Hätten wir uns da reingesteigert, hätte es die Familie wahrscheinlich noch mehr belastet", glaubt Peter Förster. "Das ist vielleicht kein guter Weg des Umgangs damit. Vielleicht auch nicht der richtige Weg", sagt er. "Aber es ist ein Weg."

Psychologen, Seelsorger, Kriseninterventionsteams, Opferschützer, die heute sofort zur Stelle wären, seien damals kein Thema gewesen. Auch fragte nie mal ein Lehrer nach, wie es ihm eigentlich ging. "Man wurde komplett allein gelassen. Dabei hätte ich mir einen gewünscht, der gesagt hätte: Geh jetzt mal besser eine Woche nicht in die Schule. Ich hätte mir einen gewünscht, der mir mal eine Anleitung gibt", sagt Peter Förster heute.

Theorien, wer seine Schwester umgebracht haben könnte und warum, habe er viele. Oder nein, besser: keine einzige. "Ich weiß es einfach nicht, der Täterkreis lässt sich ja überhaupt nicht eingrenzen." War es ein eifersüchtiger Ex-Freund? Eine fatale Zufallsbegegnung? Oder jemand aus der Hausbesetzerszene? Alles denkbar, aber spekulativ. Alles erscheint möglich. Und doch wieder nichts.

Das passte für mich überhaupt nicht ins Bild, das ich von ihr hatte. Passt es bis heute nicht

Peter Förster

Drei Monate vor ihrem Tod hatte Andrea W. sich bei der Post beurlauben lassen, sie wollte ihr Abitur nachholen und Psychologie studieren. Die Polizei fand später Hinweise darauf, dass die 28-Jährige zuletzt in der als radikal geltenden Kölner Hausbesetzerszene Fuß gefasst hatte. Peter Förster und seine Eltern fielen aus allen Wolken, als sie das hörten. Andrea war doch ruhig, zurückhaltend, häuslich, naturverbunden und tierlieb. Sie sympathisierte mit den Grünen, erschien aber nicht übermäßig politisch.

In ihrer ordentlichen Dachgeschosswohnung in der Gutenbergstraße fanden Peter Förster und seine Eltern beim Ausräumen kommunistische Schriften, ein Buch von Mao und "Das Kapital" von Karl Marx. Auch das eine Riesenüberraschung, sagt Peter Förster. "Das passte für mich überhaupt nicht ins Bild, das ich von ihr hatte. Passt es bis heute nicht."

Aber ob all dies auch mit Andreas Tod zu tun hat – unklar. Auch die Polizei ist ratlos. Immerhin: An der Leiche fanden sich DNA-Spuren, die dem Täter zugeschrieben werden. Einer konkreten Person konnte das Material bis heute nicht zugeordnet werden. Vielleicht, und das wäre nicht das erste Mal, offenbart sich aber nach so langer Zeit doch noch ein Mitwisser. Oder sogar der Täter selbst. Das ist die Hoffnung, die auch Peter Förster hat. Dabei, sagt er, wisse er nicht einmal, was es mit ihm machen würde zu wissen, wer seine Schwester getötet hat.

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Der 53-Jährige zieht einen roten Füller aus der Innentasche seines Sakkos. Einen einfachen Tintenfüller, nichts Besonderes, "wahrscheinlich vom Kaufhof oder so". Der Füller gehörte Andrea. Peter Förster nennt ihn sein "Erbstück". Damit habe er schon Wichtiges unterschrieben, sagt er und lächelt. Er trägt ihn immer bei sich.  © Kölner Stadt-Anzeiger

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