Jürgen Trittin hat mit "Alles muss anders bleiben" seine politische Autobiografie verfasst. Am 27. November liest der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen und Ex-Bundesminister daraus in Frechen.
Im Interview mit unserer Redaktion äußert sich der 70-Jährige zum Bruch der Ampel-Koalition und zu Neuwahlen. Er spricht auch über die Gefahren der neuen rechten Bewegung unter Trump und über die Bedeutung der Zuwanderung für Deutschland. Im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Zentralen Unterbringungseinrichtung für Geflüchtete in Frechen mahnt Trittin zudem zur Gelassenheit.
Wie haben Sie die Stimmung auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden am Wochenende erlebt?
Jürgen Trittin: Manchmal ist es von Vorteil, wenn der Wahlkampf kurz ist. Man beschränkt sich mit Ernsthaftigkeit auf das Wesentliche. Und das hat meine Partei gut gemacht, indem sie deutlich gemacht hat, dass das, was sich seit 2021 gesellschaftlich und ökologisch entwickelt hat, nicht wieder zurückgedreht werden darf. Die eingeleitete Transformation des Industriestandorts Deutschland ist nicht umkehrbar. Ein Stillstand wie vor der letzten Bundestagswahl in der Endphase der Ära Merkel wäre fatal. Das hat vor allem
Stichwort Transformation: Was stimmt Sie nach wie vor sicher, dass der Fahrplan für den Kohleausstieg im Rhein-Erft-Kreis und anderswo bis 2030 eingehalten werden kann?
Sicher bin ich mir aus einem einzigen einfachen Grund: Allein die Verknappung der CO₂-Zertifikate in Europa wird zur Folge haben, dass die Betreiber der Kraftwerke kein Interesse daran haben werden, ihre Anlagen auch nur einen Tag länger als nötig laufen zu lassen. Wenn die Kosten für die CO2-Zerifikate den Börsenstrompreis übersteigen, ist Schluss. Schließlich muss RWE jede Tonne Kohlendioxid, die ihre Kraftwerke emittieren, mit einem CO₂-Zertifikat "bezahlen". Der Boom der Erneuerbaren wird zu weiter fallenden Börsenpreise führen, da dürfte der Ausstieg eher früher als später kommen. Deshalb ist der für die westdeutsche Braunkohle vereinbarte Ausstiegspfad klüger kalkuliert als der für Ostdeutschland. Die Energiewende führt zudem zu neuen Jobs. Rund 350.000 Menschen haben bereits einen Job bei Unternehmen gefunden, die sich mit Erneuerbaren Energien beschäftigen.
Was verbinden Sie als Niedersachse mit dem Rhein-Erft-Kreis?
Natürlich denke ich zuvorderst daran, dass das Rheinische Revier über viele Jahrzehnte Garant für die Versorgungssicherheit in unserem Land ist. Ich stelle aber fest, dass die Rheinschiene den Niedergang der Kohle und der Stahlindustrie deutlich besser verkraftet als das Ruhrgebiet. Das liegt auch daran, dass die Chemieindustrie manches auffängt, aber auch perspektivisch an Ansiedlungen wie Microsoft. Hinzu kommt eine große Bereitschaft, Wasserstoff als Energieträger zu nutzen. Das ist eines der Themen, die Robert Habeck mit Nachdruck vorantreibt.
Die Grünen haben Habeck als Spitzenkandidaten und Kanzlerkandidaten gewählt. Mit Umfrageergebnissen um die zwölf Prozent ist das Kanzleramt aber weit weg.
Scholz liegt bei 15 Prozent. Wir haben noch mehr als 90 Tage bis zum voraussichtlichen Wahltermin. Da kann noch viel passieren, das Rennen ist offen. Wir haben zuletzt bei anderen Wahlen doch auch gesehen, dass es ausgehend von den Prognosen noch zu kräftigen Verschiebungen kommen kann. Nicht zuletzt bei der US-Wahl, auch wenn ich mir natürlich ein anderes Ergebnis gewünscht hätte. Aber da lagen viele Umfragen deutlich daneben.
Nun, wenn es um die Frage des künftigen Kanzlers geht, liegt
Das ist so, aber auch er würde nur am Ende wiederum mit einer Partei links der Mitte koalieren müssen. Viele Ankündigungen, was er alles rückgängig machen möchte, werden nicht eintreten. Da mag er noch so sehr auf den Putz hauen. Aber so ist es ja nun mal im Wahlkampf. Doch bei Bundestagswahlen wählen die Menschen eine Koalition und nicht ein Parteiprogramm.
Sie werben für Schwarz-Grün? In Nordrhein-Westfalen funktioniert diese Koalition ja weitgehend geräuschlos.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die CDU und ihre Wähler darauf aus sind, mit der SPD den weiteren Stillstand zu inszenieren. Das wäre die Fortsetzung der Politik bis 2021, deren Folgen die Menschen jetzt spüren. Daher kenne ich außer dem bayerischen Ministerpräsidenten niemanden, der Schwarz-Grün kategorisch ausschließt. Grundsätzlich ist es doch so, dass alle demokratischen Parteien Bündnisse miteinander eingehen können – weil sonst Antidemokraten wie die AfD Macht bekämen. Und ich gehe davon aus, dass es keine Koalition geben wird, die nicht lagerübergreifend sein wird. Was bedeutet, dass man eine große Bereitschaft zur Kompromissfähigkeit mitbringen muss. Dieser neuen Regierung muss es dann zudem besser als der Ampel gelingen, ihre Erfolge den Menschen zu vermitteln. Stattdessen haben einige Protagonisten es vorgezogen, sich und die Regierung selbst zu zerlegen.
Muss es nicht auch ein ganz anderer Wahlkampf werden? Trump ist gewählt worden, weil er sogar nach Einschätzung von Experten die Themen vorangetrieben hat, die den Menschen unter den Fingernägeln brennen. Hierzulande scheinen Politiker nicht das Gespür für die Sorgen der Bevölkerung zu haben.
Es stimmt: Die Wahl in den USA ist über harte wirtschaftliche Fragen entschieden worden. Zwar konnte Biden nach Covid und den Folgen durch Putins Krieg relativ erfolgreich die Inflation bekämpfen und die Arbeitslosenquote zu senken. Für die meisten US-Amerikaner ist aber entscheidend, ob sie sich ihren Traum vom eigenen Haus verwirklichen können. Und der ist für viele durch die Zinspolitik der vergangenen Jahren unerfüllbar geworden – was sich auf die Grundstimmung im Land ausgewirkt und wovon Trump profitiert hat. Ob die Wirtschaft in den USA allerdings davon profitiert, wenn Trump tatsächlich 20 Prozent Zölle auf Waren aus Europa und 60 Prozent aus China erhebt, wage ich zu bezweifeln. Das treibt die Inflation in die Höhe – wie die Vertreibung von illegalen Migranten zu einem Mangel an Arbeitskräften führt.
Hat es Sie überrascht, dass Trump entgegen der meisten Prognosen gegen Harris gewonnen hat?
Überrascht hat mich nur die Deutlichkeit, mit der es geschehen ist. Ich warne davor, in der künftigen Regierung die Fortsetzung von Trumps erster Amtszeit zu sehen. Die Kräfte, die ihn im Wahlkampf unterstützt haben wie Thiel und Musk, sitzen jetzt mit am Tisch und fordern eine Gegenleistung ein. Und nicht nur das: Das ist eine extrem rechte Bewegung, die einen echten Systemwechsel und eine Disruption anstrebt. Um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen, haben sie mit Wettbewerb und Marktwirtschaft nichts im Sinn. Da kommt eine ganz neue Form der Herrschaft auf die USA und die übrige Welt zu.
Sehen Sie die Anzeichen dafür, dass diese extrem konservativen Züge auch in Deutschland Fuß fassen, speziell durch die AfD?
Wir sind in der glücklichen Lage, dass es eine konservativ-demokratische Partei gibt, in der sich immer noch viele Menschen wiederfinden und die ihre Berechtigung hat: die CDU. Schauen Sie doch mal nach Frankreich, was da mit dem Gaullisten passiert ist oder welche Rolle die Christdemokraten in Italien noch spielen. Und in dieser Frage stimme ich mit Söder absolut überein, auch wenn ich mit ihn sehr wenig gemein habe: Wir dürfen antidemokratischen Kräften keine Macht übertragen. Und Merz muss man zugute halten, dass er die CDU konsolidiert hat, indem er das Konservative wieder geschärft hat. Nicht gelungen ist es ihm dagegen, den Zuspruch für die AfD zu halbieren.
Wie stehen Sie zu einem Verbot der AfD?
Die Hürde dafür ist hoch. Aber wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind, muss man es nutzen. Da bereits drei Landesverbände als rechtsextrem eingestuft worden sind, sind die Chancen für ein Verbot nicht ganz schlecht.
Sie sind demnächst in einer Stadt zu Gast, in der seit Wochen die Einrichtung einer Zentralen Unterbringungseinrichtung für Geflüchtete die Schlagzeilen bestimmt. Können Sie die Bedenken gegen solche Einrichtungen und die Zuwanderung verstehen?
Ich bin da befangen. Zu meinem Wahlkreis gehörte Friedland. Durch die dortige Erstaufnahmeeinrichtung haben wir Millionen von Menschen geschleust. Zentrale Einrichtungen sind nicht das Problem. Zu einem Problem können die Menschen werden, die nicht müde werden zu behaupten, dass sie Brutstätten von Gewalt und Kriminalität sind. Daher würde ich den Kritikern in Frechen zurufen, dass sie ihre Befürchtungen etwas tiefer hängen sollten.
Im Zusammenhang mit Migration bin ich auf ein Zitat des Sängers Morrissey von der Band The Smiths gestoßen. Er hat gesagt: "Ich will, dass Frankreich französisch ist und Deutschland deutsch. Wenn man versucht, alles multikulturell zu machen, hat man am Ende gar keine Kultur mehr. " Ist da etwas dran?
Menschen meines Aussehens werden gerne "Kartoffeldeutsche" genannt. Wie deutsch ist die Kartoffel? Sie ist ein Migrant aus Südamerika. Eingeführt vonFriedrich dem Großen, um den Hunger in Preußen zu bekämpfen. Eben dieser Friedrich sprach an seinem Hof nur französisch. So deutsch ist die Kartoffel. Es gibt keine statische deutsche Kultur. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es Migration immer schon gegeben hat: von den Bergarbeitern aus Schlesien im Revier über die italienischen Gastarbeiter bei VW bis hin zu den heutigen Migranten. Daher ist es völliger Unsinn zu glauben, eine Gesellschaft könne ohne Austausch und Veränderung existieren.
Jürgen Trittin war 25 Jahre lang Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/ Die Grünen und war Bundesminister für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit. Anfang des Jahres hat er sein Mandat niedergelegt. Als Zeuge der politischen Geschichte Deutschlands berichtet er in seinem Buch "Alles muss anders bleiben" von seinen Anfängen als Hausbesetzer, seine erste Rolle in der ersten rot-grünen Bundesregierung bis hin zu den aktuellen politischen Entwicklungen.
Trittin widmet sich unter anderem den Themen Demokratie, Reichtumsverteilung, Kriegen und Klimakrise, immer mit dem Ziel, durch Veränderung Sicherheit zu schaffen. Es gelingt ihm ein eindrucksvolles Porträt Deutschlands im Zeitalter des beschleunigten globalen Wandels.
Trittin kommt am Mittwoch, 27. November, auf Einladung des Grünen Forums Rhein-Erft-Kreis nach Frechen. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr in der Aula der Edith-Stein-Schule Frechen, Kirchenkamp 7-9. Karten gibt es im Vorverkauf für 10 Euro bei ProTicket.
Wir verlosen 5 mal zwei Karten für die Lesung und Talkrunde. Wer dabei sein möchte, muss nur eine E-Mail mit dem Stichwort "Trittin" und Telefonnummer an redaktion.rhein-erft@ksta-kr.de senden. Einsendeschluss ist am Sonntag, 24. November um 0 Uhr. Aus allen Einsendern werden die fünf Gewinner gezogen und am Montag, 25. November, benachrichtigt. (jtü) © Kölner Stadt-Anzeiger
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