Ein paar Stunden vor dem Gespräch in seiner Dachgeschosswohnung mailt Gerhart Baum einen Gedankenstrom, zwei Seiten Stakkato in Versalien, drängend, es geht um alles: Enttäuschung über FDP und Ampel, Sorge um Frieden und Demokratie, Hoffnung auf neuen Zusammenhalt.
"Hier brennt die Hütte und es fehlt Besinnung", schreibt er. "Mit solcher Düsternis habe ich den Jahreswechsel noch nicht erlebt."
Zur Düsternis geselle sich bei ihm "eine nicht nachlassende Entschlossenheit, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken – nicht durch Verbote, sondern durch Taten". Gerhart Baum, Innenminister unter Kanzler Helmut Schmidt 1978 bis 1982, Autor, Menschenrechtler und Arsch-huh-Aktivist, ist 92 Jahre alt. Eine lebensbedrohliche Sepsis hat ihn in den vergangenen Monaten stark geschwächt, er hat sie noch nicht ganz überwunden. Die meisten der sehr vielen Anfragen musste er zuletzt absagen, für den "Kölner Stadt-Anzeiger" macht er eine Ausnahme. Aus Verbundenheit, "und natürlich, weil ich weiter gestalten will", sagt er an einem Nachmittag Mitte Dezember in seiner Dachgeschosswohnung am Kölner Ubierring.
Baum: "Ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg"
Draußen laufen die Leute mit bunten Geschenktüten und Nordmann-Tannen durchs Grau, während die Menschen in Syrien nach Assads Sturz freudentaumeln, auf die Ukraine weiter russische Bomben fallen, die AfD in Umfragen bei knapp 20 Prozent liegt und Baums FDP am Boden.
"Es geht um so viel gerade – ich habe den Eindruck, das ist vielen nicht bewusst." Er haut mit der Faust auf den Tisch, dass man sich ein bisschen sorgt. Es geht nicht um ihn. Aber um sein Lebenswerk, die Gestaltung der Demokratie, und: dass es beim Nie wieder! bleibt. "Ich habe Sorge, dass die Erinnerung an den Holocaust verblasst und sich die Geschichte wiederholen kann. Nicht im Sinne von Völkermord, aber in überbordendem, wachsendem Antisemitismus." Nie seit 1949 sei die Demokratie so bedroht gewesen wie heute. Und, ja: "Ich habe Angst vor einem Dritten Weltkrieg."
Die FDP sollte nicht im Mittelpunkt stehen...
Die FDP sollte nicht im Mittelpunkt stehen, hatte er schon am Telefon gesagt. Steht sie dann doch erstmal. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein zerfleddertes Buch mit dem Titel "Das Auf und Ab der Liberalen von 1848 bis heute", daneben ein Büchlein über den FDP-Parteitag 1961 und der "Zeit"-Titel mit
Baum hebt ehrlich ratlos die Schultern und sagt, es klingt fast lustig: "Es ist zumindest nicht unmöglich, dass sie fünf Prozent schaffen." Und Christian Lindner, den er lange für "eines der größten politischen Talente" hielt – hätte der nicht, nach dem lange und mit Kriegsgebrüll ("D-Day", "offene Feldschlacht") geplanten Koalitionsbruch ohne Wenn & Aber und doch peinlichem Gerede von einem "Praktikantenpapier", zurücktreten müssen? "Die Art und Weise, die Ampel zu verlassen, hat zu einem Vertrauensverlust geführt. Wie Christian Lindner den Abgang mitinszeniert hat, hat mich verstört."
Das Problem sei, dass "die FDP zu einer Ein-Mann-Partei geworden ist. Wohl und Wehe hängt von einer Person ab". Bei ihm seien in den vergangenen Wochen Erinnerungen an die sich anbahnende Jamaika-Koalition 2017 hochgekommen: "Da ließ Lindner die Gespräche platzen und man wusste nicht recht, warum." Klingt nach: Stimmt, diese Person ist eigentlich nicht mehr tragbar. Gibt bloß gerade keine andere. Baum nimmt einen Schluck Fenchel-Anis-Kümmel-Tee und sagt: "Die Ära Lindner, wie wir sie kannten, ist zu Ende."
Mehr Elon Musk und Javier Milei für die Partei? - "Der Vergleich hat mich doch sehr verstört"
Ein einziges Mal habe er die FDP in den vergangenen gut 70 Jahren nicht gewählt, zur Zeit von Jürgen W. Möllemann. Als die FDP 1982 die sozialliberale Koalition platzen ließ, stand Baum auf der Seite von SPD-Kanzler Schmidt, verließ die FDP aber anders als Ingrid Matthäus-Maier oder Günter Verheugen nicht. Lieber wollte er den linksliberalen Flügel neu aufbauen, der nicht allein auf Wirtschaftswachstum setzte. Es gelang.
Längst dominieren die Wirtschaftsliberalen die Partei wieder. Christian Lindner wünschte sich jüngst für Deutschland "mehr
Der 92-Jährige hatte in einem ersten Statement nach dem kalkulierten Koalitionsbruch gesagt, die FDP sei "eine Partei mit einem Prozent Sachkompetenz und vier Prozent Wählern". Ein Prozent Kompetenz, das ist doch etwas überschaubar, um eine Partei zu wählen? Baum lächelt. "Es ging mir bei der Aussage darum, vor Selbstüberschätzung zu warnen. Mit dem kompromisslosen Festhalten an der Schuldenbremse ist die FDP in einer Sackgasse gelandet." Ob er die FDP wählen wird? Dazu möchte er nichts sagen.
"Haben Sie in den vergangenen Monaten daran gedacht habe, aus der FDP auszutreten?" Entschiedenes Nein. "Es braucht eine starke liberale Partei. Die allerdings viel stärker auf Bürgerrechte, Einhegung der Digitalkonzerne und Klimaschutz setzt. Sie darf keine Klientelpartei für Wohlhabende sein." Er wolle, sagt er, "die FDP nicht verlassen, ich möchte sie verändern".
Seine Frau Renate taucht in der Türe auf. "Braucht ihr noch etwas, Gerhart?" – "Ich brauche Dich immer!", sagt er. "Bei der Mail an Sie hakte übrigens die Feststelltaste, aber es war trotzdem lesbar, oder?", fragt sie. – "Es las sich sehr leidenschaftlich so." – Sie lächelt. "Die Leidenschaft treibt ihn weiter an. Das müssen wir trotzdem mal machen lassen." Eine Homestory sei doch nicht geplant? Nein, nicht so richtig. Beuys & Co. an den Wänden, Bücherstapel und Fischgrät-Parkett der in jeder Hinsicht stilsicheren Altbauwohnung müssen nicht im Detail beschrieben werden (sind sie schon oft). Nur die Udo-Lindenberg-Zeichnung mit Widmung zum 90. im Bad vielleicht noch (eine von Niedecken gibt es auch…), es gibt ja Schnittmengen: die Haltung, die Unverwüstlichkeit. Der Eindruck, dass
Parallelen zu Udo Lindenberg, dem anderen Oberdemokraten
Gerhart Baum hielt am 10. September 2024 die Festrede zum 75-jährigen Bestehen des Deutschen Bundestags, für die Demokratie war die Rede so wichtig wie "Komet", Lindenbergs Hit mit Rapper Apache 207, für die träumerische deutsche Seele. Baum überlebte als Zwölfjähriger die Bombennacht von Dresden, sein Vater kam nicht von der Front zurück. Im Reichstag warnte er vor den Rechtsextremen, die sich nicht scherten um Menschenwürde; erinnerte an das Glück, in einer freien Gesellschaft zu leben. Forderte Engagement, Haltung. Nach der Rede standen die Leute auf, gerührt und begeistert. Wie bei Udo, dem anderen Oberdemokraten.
Womöglich hat es auch mit Nostalgie und Milde zu tun, dass Menschen mit den Jahren positiver beurteilt werden. Bei Helmut Schmidt sah man im Rückblick seinen Umgang mit dem RAF-Terror und der Hamburger Sturmflut, bei Kohl die Einheit, bei Schröder die Agenda 2010. Mit Gerhart Baum verbindet man weniger ein Projekt als seinen Kompass. Weil er als integrer Politiker und Menschenrechtler mehr als 70 Jahre für die Demokratie gerungen hat, ist er zu einem Gewissen seiner Zeit geworden. In einer Gegenwart, in der viele Menschen es für normal halten, dass in der Politik gelogen wird, gewinnen Persönlichkeiten mit Haltung an Bedeutung.
Briefwechsel mit Thomas Mann
Baum war 20 und studierte Jura, als er Thomas Mann von seinen Sorgen um die Entwicklung der Demokratie schrieb; dass er aus dessen Novellen gelernt habe, es bedürfe "zu aller humanen Kulturgestaltung einer hohen, überlegenen Rationalität". Dass freie Kunst und Kultur ein Wesenskern der Demokratie sei, ahnte der spätere Kulturpolitiker Baum sehr früh. Thomas Mann hatte ihm freundlich zustimmend zurückgeschrieben. Für den jungen Baum muss die Antwort 1953 ein Ritterschlag gewesen sein.
"Ich steige gerade nochmal tief ein bei Thomas Mann", sagt er im Dezember 2024. Der Autor des vor 100 Jahren erschienen Klassikers "Der Zauberberg" hatte sich auch lebenslänglich an der "Deutschen Frage" abgearbeitet: Sich gefragt, womit dieses deutsche Duckmäusertum zu erklären ist, das Hitler und den Holocaust ermöglichte, diese Verzagtheit, die "German Angst"? "Bis 1989 gab es in Deutschland nie eine gelungene Revolution, das ist zumindest einer der Gründe", sagt Baum.
Die Frage, ob die Wiedervereinigung im Rückblick ganz gelungen ist, führte heute allzu tief hinein in die "Deutsche Frage", die der liberale Vordenker und Baum-Freund Ralf Dahrendorf als "tragische Spannung zwischen Deutschland und den Werten der Aufklärung" bezeichnet habe. Der Widerspruch zwischen Zugehörigkeit zum Westen und Sehnen nach dem Antiwestlichen keimt in der SPD immer wieder auf, das Herz von AfD und BSW pocht aufgeregt autokratisch und westfeindlich. "Die Deutsche Frage zeigt sich heute zum Beispiel an der Ansicht, man sollte der Ukraine keine Waffen liefern."
Für den Juristen und Menschenrechtler Gerhart Baum geht es darum, dass der Staat der um sich greifenden Angst begegnen und für Sicherheit sorgen muss, Angst aber nicht als Vorwand für Eingriffe in Grundrechte dienen darf. Das geschehe aber. "Längst nicht jede neue Sicherheitsmaßnahme ist mit einer konkreten Gefährdungslage begründet." Mit Sicherheit lasse sich allerdings viel leichter argumentieren als mit Freiheit.
Der 92-jährige Kölner, der nach der Bombardierung von Dresden im Flammenmeer stand und Hunderte Tote sah, befürchtet, dass sich ein Teil der Deutschen gerade wieder von den Ideen der Aufklärung abwendet. "Die rechtsextreme Welle ist keine Laune des Augenblicks", sagt er. "Sie hat ihre Ursprünge auch in der Geschichte und Mentalität der Deutschen."
"Meine Wut ist jung" hieß sein Buch, das 2012 erschien und vor den Gefahren von Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Demokratiemüdigkeit warnte. Seine Wut sei "in dieser Hinsicht noch viel jünger geworden", sagt Baum heute. Seine Leidenschaft für eine freie Welt, die die Lehren aus Weltkriegen und Holocaust zu ziehen habe, ist gesundheitlicher Einschläge zum Trotz ungebrochen. Als sein Buch "Rettet die Grundrechte" in diesem Mai auf Türkisch erschien und in Istanbul vorgestellt wurde, befand Gerhart Baum sich in der Berliner Charité. Seine Frau Renate zog ihm einen schwarzen Pullover über den Klinikkittel, bevor die Kamera für ein Grußwort eingeschaltet wurde. Eine Viertelstunde über Menschenrechte reden, das kann der 92-Jährige auch noch, wenn er am Tropf hängt und die Ärzte sich Sorgen machen.
Gerhart Baum plant mit 92 ein neues Buch: Es soll um Engagement gehen
Er plane gerade ein neues Buch, sagt Baum am Ende des gut zweistündigen Gesprächs. Als sein vor elf Jahren verstorbener Freund Stephané Hessel den Weltbestseller "Empört Euch!" schrieb und darin zu mehr Engagement für Freiheit und Demokratie aufrief, war der Holocaust-Überlebende Hessel 93. "Empört Euch!", das sei ein sehr guter Titel, sagt Baum. "Engagiert Euch! Empört Euch über die Demokratiefeinde!", in diese Richtung soll es auch bei ihm gehen.
"Ich werde weitermachen", sagt er. "Solange es eben noch geht." Es ist auch eine Zustandsbeschreibung dieses Landes, dass der 92-jährige Gerhart Baum gerade sehr dringend gebraucht wird. © Kölner Stadt-Anzeiger
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.