Herr Wölwer, Sie haben 1976 den ersten Bayer-04-Leverkusen Fanclub gegründet und 1979 die alternative Grüne Liste Leverkusen, den Vorgänger von Bündnis 90/die Grünen. Auf welchem Feld braucht man mehr Frustrationstoleranz?

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Gerd Wölwer (lacht): Das kann man ganz prima auf beiden Feldern üben. Der Unterschied ist, dass man in der Politik einiges beeinflussen kann und auch weiß, wie die Mechanismen sind. Das kann man im Stadion nicht, da ist man Betroffener. Und ich muss sagen: Im Stadion kann ich das aushalten, aber ich schaue mir kein einziges Spiel von Bayer Leverkusen live im Fernseher an. Das zeichne ich auf und gehe in der Zeit spazieren oder so. Und wenn ich dann weiß, wie es ausgegangen ist, schaue ich mir das an – oder bei einem 0:5 lösche ich die Aufnahme dann auch gleich wieder. Das ist sonst für mich nervlich nicht auszuhalten.

Wie haben die Nerven die deutsche Meisterschaft verkraftet?

Ich muss gestehen: Die ein oder andere Träne ist schon geflossen. Wissen Sie, ich bin 1976 mit Unterschriftenlisten im Stadion rumgelaufen, habe mit dem Vereinsvorstand gesprochen, um diesen ersten Fanclub zu gründen. Wenn man das alles erlebt hat, das hoch und runter, die Häme in der Republik. Wir haben immer oben mitgespielt, aber wir wurden nie Meister. Deswegen habe ich irgendwann gesagt: Ich will nicht sterben, bevor Bayer Leverkusen einmal deutscher Meister wird. Das nehme ich jetzt aber nicht wörtlich: Ich ertrage auch noch ein paar mehr deutsche Meisterschaften.

Auf diesem Feld also haben Sie ihr größtes Ziel erreicht. Wie sieht es in der Politik aus?

Wenn ich mich an das erste Wahlprogramm erinnere, das wir geschrieben habe, stelle ich fest: Da stehen Dinge drin, die heute noch richtig sind und für die uns damals alle ausgelacht haben. Atomausstieg, Energiewende, Erneuerbare Energie. Auch die ganze Politik für eine gleichberechtigte Gesellschaft, für queere Menschen, ich glaube, da haben wir schon ganz viel erreicht. Nicht bei jedem, aber allgemein in der Gesellschaft.

Was ist im Nachhinein betrachtet nicht so gelungen?

Zu Zeiten des kalten Krieges hatten wir mit unserer Friedenspolitik meiner Meinung nach den richtigen Ansatz. Aber in den letzten Jahren haben wir festgestellt, dass man bei den bestehenden Konflikten in der Welt nicht alles mit einer Friedensbewegung regeln kann. Das ist ein Punkt, bei dem wir als grüne Politiker auch dazugelernt haben.

Was sehen Sie speziell für Leverkusen als den größten Erfolg der Grünen?

Ich finde es gut, dass wir in der Verwaltung angekommen sind und dort mit einem eigenen Dezernat vertreten sind, dass wir einen eigenen Bürgermeister stellen. Ich denke, dass wir die treibende Kraft hinter der Energiewende und der Mobilitätswende gewesen sind, von der Avea über die WGL bis zu EVL und der Wupsi.

Wie steht Leverkusen aktuell in umweltpolitischen Themen da?

Nicht gut. In den letzten ein bis zwei Jahren erlebe ich eher Rückschritte, weil andere Themen auf der Tagesordnung stehen. Gerade bei der Mobilität drehen wir das Rad wieder zurück, indem wir Buslinien streichen oder kürzen, im Radwege-Ausbau kommen wir überhaupt nicht weiter.

Ihr zweites Steckenpferd war zuletzt die Bildungspolitik, bis zu ihrem Rücktritt haben sie in diesem Turnus den Bildungsausschuss geleitet. Wie sehen Sie die Stadt in diesem Bereich aufgestellt?

Besser. Wir haben an vielen Schulen eine gute digitale Ausstattung und gute Lehrer. Ich sehe den Mut zu anderen Konzepten: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Sprachförderung, das sind wichtige Themen. Die Bildungspolitik hat mir immer Spaß gemacht, weil ich gemerkt habe, dass es da viel zu gestalten gibt. Das lag mir immer am Herzen.

Was hat Sie in diesem Bereich besonders bewegt?

Natürlich die Flutkatastrophe, in der wir Schulen verloren haben. Immer noch sind einige Schülerinnen und Schüler in Provisorien unterwegs. Ich finde, dass die Verwaltung das in Zusammenarbeit mit der Politik ganz gut geregelt hat. Eine Entwicklung, die ich sehr befürworte, ist, dass man aus den alten Kulturstrukturen die bildungsaffinen Themen herausgelöst hat. Musikschule, Volkshochschule – das jetzt im Bildungsausschuss alles in einer Hand zu haben von der frühkindlichen Bildung bis zur Erwachsenenbildung, das ist ein großer Vorteil.

Was sind die größten Baustellen im Bildungsbereich?

Natürlich der Sanierungsstau der Schulgebäude, da dürfen wir jetzt nicht nachlassen. So manches Schulklo ist nicht zivilisationswürdig. Das ist ein endloses Thema, das stand auch schon in unserem ersten Wahlprogramm.

Sind Sie von der Haushaltskrise überrascht worden?

Ja. Ich bin kein Finanzpolitiker. Uns wurde im Bildungsausschuss in den letzten Jahren immer eher vermittelt: "Wenn ihr was Wichtiges habt, macht! Das Geld dafür finden wir schon." Man hatte das Gefühl, dass wir mit der Senkung der Gewerbesteuer die richtigen Beschlüsse gefasst haben, die dazu führen, dass wir jetzt eine größere Freiheit haben in den Dingen, die uns wichtig sind. Schulsozialarbeiter, um nur ein Beispiel zu nennen. Das sind sehr wichtige Themen, die man aber nur regeln kann, wenn man eine gewisse finanzielle Beinfreiheit hat. Wenn das fehlt, wird es ganz schwierig. Es sind ja die freiwilligen Leistungen, die eine Stadt voranbringen, die sie zukunftsfähig machen.

Mit welchem Gefühl geben Sie nun Ihr Ratsmandat ab?

Mich freut, dass die Grünen einen rasanten Mitgliederzuwachs erleben, wir haben die Zahlen in wenigen Jahren fast verdoppelt. Mit dem Ampel-Aus gab es sogar noch einen neuen Ansturm. Deswegen haben wir mittlerweile auch ein gutes Personaltableau von Leuten, die auch bereit sind, etwas zu tun. Sodass ich sagen kann: Da kannst du jetzt beruhigt aufhören. Aber mich treibt natürlich weiter die Frage um: Welche Welt lassen wir der nachfolgenden Generation zurück? Warum tun wir immer noch so, als würde das alles gut gehen, wenn wir immer so weiter machen? Das macht mich schon betroffen, aber auch müde. Ich habe lange genug gekämpft und da sind jetzt auch die in der Verantwortung, die das noch weitaus mehr betrifft als mich.

Wie geht für Sie das Leben nach der aktiven Politik weiter?

Ich werde mich nicht ganz aus der Politik verabschieden, auf jeden Fall werde ich den Sportausschuss weiter machen, damit habe ich angefangen, als stellvertretender sachkundiger Bürger im Sportausschuss 1984. Auch in der Fraktion würde ich mich gerne weiter einbringen, aber das entscheidet die Fraktion. Und einige Ehrenämter werde ich auch noch fortführen. Aber ich freue mich darauf, im neuen Jahr meine persönliche Planung ohne den Sitzungskalender vor Augen machen zu können. Unser Haus an der Mosel möchte ich häufiger besuchen, ich mache gerne ausgedehnte Radtouren. Und ins Stadion werde ich natürlich auch weiter gehen.

Zur Person

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Gerd Wölwer, geboren 1954 im Landkreis Cochem-Zell, ist Diplom-Ingenieur in Chemie. Zunächst arbeitete er für das Amt für Wasser- und Abfallwirtschaft in Bonn, dann für die Untere Wasserbehörde des Rheinisch-Bergischen Kreis und schließlich als Dezernent für Umwelt und Planung im Rheinisch-Bergischen Kreis, wo er 2019 in den Ruhestand ging. In der Leverkusener Politik war er seit 1984 als Bezirksvertreter im Stadtbezirk III, als Mitglied des Stadtrates, Fraktionsvorsitzender und stellvertretender Bürgermeister aktiv.   © Kölner Stadt-Anzeiger

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