Bei den 559 deutschen Jugendämtern sind laut dem Statistischen Bundesamt im vergangenen Jahr rund 211.700 Hinweise auf Kindeswohlgefährdung eingegangen.

Mehr News aus Nordrhein-Westfalen finden Sie hier

Eine Zahl, die jedes Jahr steigt. Auch in Köln: 2023 erreichten das Jugendamt 4859 Meldungen. Im Vorjahr waren es noch 4442.

In Köln kümmert sich der Gefährdungsmeldungssofortdienst (GSD) um sie. Seit 14 Jahren können sich Kölnerinnen und Kölner dort melden, wenn sie vermuten, dass Kinder in der Stadt gefährdet sind. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, mehrsprachig, anonym, per Mail, Anruf oder Post.

Jugendamt Köln hat zuletzt 963 Kindeswohlgefährdungen registriert

Ein Angebot, das in Köln auch durchaus in Anspruch genommen wird. Allerdings ist nicht jeder Hinweis eine Situation, bei der das Wohl eines Kindes durch Vernachlässigung oder Gewalt bedroht ist.

Bei 963 Meldungen wurde nach Angaben der Stadtverwaltung eine Kindeswohlgefährdung 2023 registriert. Zum Vergleich: Die Statistischen Landes- bzw. Bundesämter zählten im vergangenen Jahr in Nordrhein-Westfalen 13.840 Kindeswohlgefährdungen (bei 55.833 Hinweisen), bundesweit waren es 63.693 Fälle (211.695 Hinweise).

Daran lässt sich allerdings nur tendenziell der Kölner Anteil ablesen. Aufgrund technischer Probleme konnten die städtischen Daten nicht übermittelt werden, daher wurden sie in den überregionalen Statistiken nicht einberechnet.

Trotzdem wird deutlich, dass sowohl landes-, bundesweit als auch in Köln Jugendämter mehr Hinweise bekommen, aber sich beim Großteil keine Kindeswohlgefährdung bestätigen lässt. Die Stadtverwaltung vermutet, dass viele sensibler für das Thema geworden sind. Oder dass die Isolation in der Corona-Pandemie dazu geführt hat, dass es weniger Akzeptanz gegenüber den Lebensstilen anderer Familien bei den Menschen gebe.

Auch wenn nicht jede Meldung ein Ernstfall ist, sind sie für das Kölner Jugendamt im Sinne des Kinderschutzes "handlungsleitend", um "mit Kindern, Jugendlichen und Eltern tragfähige Lösungen zu entwickeln".

Kinderschutzbund Köln: Psychische Gewalt ist schwer zu erkennen

Aber: "Wir erfassen das Dunkel bei weitem nicht vollständig", sagt Lars Hüttler vom Kinderschutzbund Köln. Denn zur Kindeswohlgefährdung zählt nicht nur physische, sondern auch psychische Gewalt wie emotionale Vernachlässigung, dauerhafte Demütigungen und Abwertungen. Die sind laut Hüttler schwer zu erkennen und können nicht so einfach gemeldet werden.

2023 waren nach Angaben des Statistischen Landesamts bei insgesamt 13.840 Kindeswohlgefährdungen die häufigsten Anzeichen Vernachlässigung (7289) und psychische Misshandlung (5070) – mehr als körperliche Misshandlung (4026) und sexuelle Gewalt (1016).

"Das System kommt an seine Grenzen und wir haben deshalb große Sorgenfalten auf der Stirn".

Lars Hüttler, Geschäftsführer vom Kinderschutzbund Köln

Psychische Gewalt komme inzwischen auch immer häufiger in Kölner Familien vor, sagt der Geschäftsführer des freien Jugendhilfeträgers. Eine Entwicklung, die der Kinderschutzbund vor allem seit der Corona-Pandemie beobachtet.

Das Virus, aber ebenso die Klimakrise, der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder der eskalierte Nahost-Konflikt führten dazu, dass das Thema Angst in vielen Familien präsenter geworden ist. Das führt wiederum zu Stress und Unsicherheiten. Und eben auch Kindeswohlgefährdungen, sagt Lars Hüttler: "Wenn man in einer Dauerschleife aus Überlastung und Überforderung ist, kann das in Gewalt gegen Kinder enden."

Kinderschutzbund sieht Lücken beim Jugendamt Köln

Daher muss ein ineinandergreifendes Hilfesystem diese möglichen Fälle von gefährdetem Kindeswohl frühzeitig erkennen können. Im Idealfall sollten Kinder und Eltern aber schon vorher unterstützt werden. Doch genau das wird zunehmend zu einem Problem in Köln. "Das System kommt an seine Grenzen", sagt Lars Hüttler, "und wir haben deshalb große Sorgenfalten auf der Stirn".

Ein Grund dafür ist unter anderem der Fachkräftemangel. Der Kinderschutzbund nimmt einerseits ein "hohes Engagement bei den Mitarbeitenden des Jugendamtes" wahr. Jedoch seien auch Lücken zu spüren.

Konkret äußert sich die Stadtverwaltung zu diesem Thema nicht. Jedoch habe sich die Fachkräftesituation im Jugendamt "entspannt": "Die Stadt Köln erhält gute Bewerbungen und ist davon überzeugt, alle Stellen – auch die neu geschaffenen – adäquat besetzen zu können." Zurückzuführen sei das auf Lohnanpassungen, Zusatzleistungen sowie Stellen für Trainees und studentische Hilfskräfte, die oft nach ihrem Studium übernommen werden.

Lars Hüttler und der Kinderschutzbund sehen diese Anstrengungen. Der Kinderschutz sei in Köln aktuell auch nicht gefährdet, aber entspannt sei die Situation trotzdem nicht. Das ist auch auf die knappen finanziellen Ressourcen zurückzuführen.

Höhere Folgekosten: Kölner Haushaltsplanung gefährdet Kinder- und Jugendhilfe

Weil die Stadt Köln mehr ausgeben wird, als ursprünglich geplant war, müssen zukünftig Kosten gespart werden. Wie genau das aussehen wird, ist noch unklar, denn der Doppelhaushalt 2025/2026 ist bisher nicht aufgestellt worden. Planen können die Träger so nicht, denn viele ihrer Einrichtungen und Hilfsangebote werden mit städtischen Mitteln finanziert. Dadurch sind sie zudem tarifgebunden. "Dann müssen wir die Löhne erhöhen, das ist auch richtig und verdient, aber mehr Fördermittel gibt es nicht", sagt Hüttler. Das sei faktisch eine Kürzung.

Stadtkämmerin Dörte Diemert hat die Kölner Ratsmitglieder Ende Juni darüber informiert, dass in diesem Jahr 2024 im Bereich Kinder, Jugend und Familie voraussichtlich 37,4 Millionen Euro mehr ausgegeben werden. Vor allem teure Inobhutnahmen, Heimerziehungen und Vollzeitpflegen Minderjähriger sprengen das Budget.

Vielen Dank für Ihr Interesse
Um Zugang zu allen exklusiven Artikeln des Kölner Stadt-Anzeigers zu erhalten, können Sie hier ein Abo abschließen.

Es sind Folgekosten, die durch Kindeswohlgefährdung entstehen. Prävention hilft, sie zu vermeiden. Eine wichtige Rolle spielen laut Lars Hüttler hier die diversen Anlauf- und Beratungsstellen für Familien in Köln. Das werde aber nicht in der Haushaltsplanung berücksichtigt. Ein grundsätzliches Problem findet Lars Hüttler: "Wir müssen uns dringend darüber unterhalten, was uns ein umfassender Kinderschutz in Köln eigentlich wert ist."  © Kölner Stadt-Anzeiger

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.