Herr Froböse, immer mehr Menschen fühlen sich gestresst. Für den besonderen Stress im Dezember gibt es sogar ein eigenes Wort: den Jahresendstress.
61 Prozent der Angestellten in Deutschland befürchten, aufgrund von Überlastung an Burnout zu erkranken – 11 Prozentpunkte mehr als noch 2018. Soweit eine Studie der Krankenversicherung Pronova BKK aus dem Jahr 2023. Ist die Arbeit also unser größter Stress-Verursacher?
Ingo Froböse: Ich glaube nicht, dass wir immer den Arbeitsstress für alles verantwortlich machen dürfen. Wir tragen selbst viel dazu bei, ob Stress entsteht oder nicht. Die Frage ist ja: Wie gehen wir damit um?
Aber es gibt doch besonders stressanfällige Berufe.
Ja klar. Alle, die einem sehr exakten Zeitplan folgen müssen, der dann oft nicht funktioniert. Busfahrer, Straßenbahnfahrer haben echten Stress, weil sie in einer derart engen Taktung arbeiten. Alle im produzierenden Gewerbe mit Taktvorgaben. Alle, die in der Pflege arbeiten und so enge Zeitfenster haben, dass sie gar nicht durchkommen können. Alle, die den Biorhythmus durch Schichtdienste auf den Kopf stellen, haben ebenfalls echte Probleme.
In anderen Berufen verschwimmt die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr. Ist das nicht auch ein echtes Problem?
Ja, das fördert den Stress massiv. Wir sollten immer eine Harmonie haben zwischen Belastung und Entlastung. Wir brauchen Zeiten, um den Akku wieder aufzuladen. Das machen wir mit unseren Smartphones ja auch jeden Tag. Wenn wir morgens aus dem Haus gehen und der Smartphone-Akku ist nicht bei 100 Prozent, hält er auch nicht durch. Wir schaffen es durch die Ausdehnung des Arbeitstags nicht, den Feierabend wirklich zu einem Schlusspunkt des Tages zu machen. Regeneration findet da nicht statt – und das ist Käse.
Weil das Gehirn selbst bei kurzen Unterbrechungen wieder in den Arbeitsmodus schaltet?
Genau. Idealerweise würde ich mir wünschen, dass das Gehirn jeden Abend zu Hause eine Waschmaschine hat, die läuft, damit die Wäsche wieder weiß ist, wenn sie auf der Leine hängt. Aber das findet nicht statt. Nur ein Beispiel: Wenn wir den ganzen Tag vorm Computer sitzen und schauen abends Netflix-Serien, kann das Gehirn das nicht unterscheiden. Es wird mit dem immer gleichen Signal quasi vollgemüllt. Deswegen ist das keine Regeneration. Wir haben es also schon in der Hand, vernünftig mit uns selbst umzugehen. Das Glas Wein auf dem Sofa dazu ist auch keine gute Strategie, weil wir dann schlecht schlafen.
Ingo Froböse: "Frauen geben Stress deutlich eher zu"
Früher war nicht alles besser. Waren frühere Generationen tatsächlich ungestresster als wir?
Ich glaube ja. Heute haben wir eine Ausdehnung unserer Belastungssituation. Das heißt, auch das Wochenende wird mittlerweile mit Stress hier assoziiert. Ich kenne sogar Menschen, dazu gibt es auch Studien, die am Montagmorgen gestresst in die Woche starten, weil sie es am Wochenende es nicht geschafft haben, sich runterzufahren.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien für unser Stresslevel?
Die sind schon deshalb Stressoren, weil die Geschwindigkeit unheimlich hoch ist. Auch das zunehmende Suchtverhalten ist ein Stressor. Und vor allem bei jungen Leuten erhöhen soziale Bindungen, die fast ausschließlich digital stattfinden, den Stress.
Wer ist gestresster, Männer oder Frauen?
Wenn ich mir die Statistiken anschaue, geben Frauen es zumindest deutlich eher zu. Männer verdrängen ja. Wenn man auf diejenigen schaut, die wegen Stress in klinischer Behandlung sind, ist das Geschlechterverhältnis in etwa gleich.
Was sind Anzeichen für ein akutes Stresslevel?
Nervosität, Unruhe oder Schlafmangel. Die Herzfrequenz ein wichtiger Indikator für das Stresslevel. Wenn die Herzfrequenz dauerhaft vier bis sechs Schlägen erhöht ist, dann habe ein hohes Stressniveau im Körper. Hektische oder unruhige Atmung, körperliche Aktivierung wie Schweiß auch in Ruhephasen sind typische Zeichen dafür, dass ich mehr verbrauche, als ich verbrauchen sollte.
Welche Krankheiten werden dem Stress zugeschrieben?
Ein Beispiel aus dem Sport wäre der Ermüdungsbruch. Das ist der Sportler-Burnout, wenn die Knochen sogar brechen. Außerhalb des Sportbereichs ist es das klassische Burnout. Es gibt aber auch verschiedene Herz-Kreislauf-Reaktionen, Bluthochdruck ist ein Klassiker. Herzinfarkt oder einen Schlaganfall können die Folge von zu viel Stress sein. Früher hat man das die Manager-Krankheit genannt.
Wie wirkt sich Stress auf unsere kognitiven Fähigkeiten aus?
Logisches Denken, Rationalität geht verloren. Wenn ich einen bestimmten negativen Stress, also Distress, dauerhaft habe, kommt es zu einer Chronifizierung. Das Hirn kann sich dadurch wirklich verändern. Wir wissen sogar, dass es bis zur gestörten Proteinsynthese führen kann, und das kann langfristig auch Demenz und Alzheimer begründen.
Ingo Froböse: Stress stellt Leistungsbereitschaft her
Der Stress hat ein schlechtes Image. Dabei hat er auch positive Seiten, sagen Sie.
Stress dient dazu, Leistungsbereitschaft erst einmal herzustellen. Stress ist also ein Lebensmittel für uns. Wir wachsen mit Stress. Wenn es gut läuft, wird der Stress einfach so verarbeitet, dass wir dadurch besser werden. Wir kennen alle das Lampenfieber. Dieser Stress macht unseren Organismus aufmerksamer, konzentrierter, wacher. Dieser positive Stress, Eustress genannt, nützt uns also. Er wird dann zu einem Problem, wenn er zum Distress wird.
Sie sagen, man könne negativen in positiven Stress verwandeln. Wie denn?
Wenn wir in eine Situation hineingehen, kann sie uns belasten oder sie kann uns Kraft geben. Bevor man auf eine Bühne geht, kann man total ängstlich sein oder sich fragen: Was geben mir die Menschen zurück? Was bekomme ich an Energie? Insofern ist der erste Schritt in die Situation hinein eine ganz wichtige Komponente. Optimistische Menschen haben einfach mehr oder bessere Möglichkeiten, mit Stress umzugehen als die Pessimisten. Wenn man immer negativ denkt, verändert sich das Gehirn. Man lernt quasi negatives Denken.
Wie kommen wir raus aus der Stressfalle am Arbeitsplatz?
Man sollte seine Arbeit möglichst systematisieren. "Eat the frog", also "Iss den Frosch", ist eine wunderbare Methode. Man löst die schwerste Aufgabe direkt morgens und schiebt sie nicht in den Nachmittag. Dann hat man das Schlimmste hinter sich. Dann sollte man die Mittagspause nutzen, dass man wirklich aus der Arbeit rauskommt, sich also wirklich auch mal Ruhzeiten nimmt und nicht nur mit den Kollegen in der Kantine am Esstisch immer noch weiter über die Arbeit quatscht. Und ich würde mir wünschen, dass wir stündliche Unterbrechungen machen, immer so für drei bis fünf Minuten.
Und was ist die beste Strategie, wenn man sich mental überfordert fühlt?
Das Problem ist, dass viele Menschen, die psychisch mental überfordert sind, gleichzeitig eine körperliche Unterforderung haben. Das addiert sich auf zu gleich zwei Stressoren. Denn Unterforderung für den Körper sorgt für zusätzlichen Stress. Ich kann mich mit meinem Körper also von der mentalen Belastung runterholen, dem Stress buchstäblich davonlaufen. Das ist eine wunderbare Strategie. Wenn meine Studenten zur Prüfung kommen, würde ich mir deshalb immer wünschen, die kommen mit dem Fahrrad. Dann sind sie gleich ruhiger.
Zur Person
Ingo Froböse ist Professor an der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er ist zudem Bestseller-Autor und hat schon viele Bücher rund um Gesundheit, Sport und Fitness veröffentlicht. "Energize Your Life" erscheint am 4. Januar 2025 im ZS-Verlag. © Kölner Stadt-Anzeiger
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