Herr Pagel, sage und schreibe 46.000 Tierarten weltweit sind vom Aussterben bedroht, bis zu 100 sterben pro Tag aus. Haben Sie auch eine optimistische Botschaft für uns?
Zum Glück entdecken wir täglich 50 neue Arten, weil wir so unendlich viel auf diesem Planeten noch gar nicht kennen. Wir gehen davon aus, dass wir mehr Arten noch nicht kennen als kennen. Eine Zahl, die mich allerdings sehr beunruhigt: Seit 1970 sind die Populationsgrößen der uns bekannten Arten um 68 Prozent geschrumpft. Trotzdem gerät niemand in Panik – von uns Naturschützern mal abgesehen. Würde man das auf uns Menschen projizieren, lägen wir mit unseren derzeit 8,1 Milliarden bei unter 3 Milliarden. Viele unserer Probleme hätten wir dann gar nicht erst.
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Ist es also Teil des Problems, dass wir das Artensterben nicht mitbekommen?
Definitiv. Wenn ich mit meinem Vater früher mit dem Auto von Duisburg nach Frankfurt gefahren bin, mussten wir unterwegs anhalten, um die Windschutzscheibe voller Insekten sauberzumachen. Junge Menschen heute vermissen das nicht, weil sie es gar nicht kennen. Was mir ganz wichtig ist: Es ist nicht alles verloren. Der Mensch kann vieles wiedergutmachen, was er mal überwiegend aus ökonomischen Gründen verkehrt gemacht hat. Wäre ich als kleiner Junge, der in Duisburg aufgewachsen ist, damals in den Rhein gestiegen, wäre ich chemisch gereinigt worden von den ganzen Industrieabfällen. Heute schwimmen im Rhein wieder die Lachse aufwärts.
Ihre These: Mit jeder Art, die stirbt, schwindet auch ein Stück Lebensgrundlage für die Menschen. Wie beeinflusst es mein Leben, wenn der Koala-Bär aussterben sollte?
Der Koala-Bär ist spezialisiert auf Eukalyptus und hat in seinem Lebensumfeld damit eine ganz besondere Funktion. Das Problem ist: Viele Zusammenhänge verstehen wir überhaupt noch gar nicht und merken die Auswirkungen erst, wenn es zu spät ist. Ich sage immer: Biodiversität ist wie ein Uhrwerk. Wenn zu viele Zacken aus dem Uhrwerk herausbrechen, läuft die ganze Uhr nicht mehr. Das sehe ich die Riesengefahr.
Nicht nur Elefanten und Tiger sind bedroht, sondern auch kleine bis sehr kleine Tiere wie Würmer und Käfer. Gibt es unter Wissenschaftlern ein Ranking, welcher Verlust besonders dramatisch wäre?
Letztlich alles. Aber in der Tat wären Fledermäuse, Flughunde, Vögel und vor allen Dingen Insekten ein riesiges Problem, weil sie eine Aufgabe für uns Menschen erfüllen, nämlich die Befruchtung von Bäumen und Bestäubung von Pflanzen. Künstliche Bestäubung kostet enorm viel Geld, während die Natur uns kostenlos versorgt. Aber auch Raubtiere sind sehr wichtig, um Bestände von Pflanzenfressern zu regulieren. Die in weiten Teilen der Welt extrem bedrohten Geier sind Reinigungskräfte der Natur, weil sie viele tote und kranke Tier auffressen. Fallen sie weg, entstehen neue Risiken. Es spielt alles ineinander.
Theo Pagel: "Das Abholzen des Regenwaldes macht mir die größte Sorge"
2022 haben mehr als 100 Länder bei einer Artenschutzkonferenz in Montreal ein wichtiges globales Abkommen beschlossen. 30 Prozent der Land- und der Meeresoberfläche sollen bis 2030 unter Schutz gestellt werden. Aber erst jetzt bei der Artenschutzkonferenz in Rom konnte man sich auf eine Finanzierung einigen – mehr als zwei Jahre später. Haben wir so viel Zeit?
Nein. Wir müssen sehr dringend handeln, weil wir sonst wichtige Kipppunkte überschreiten. Das Abholzen des Regenwaldes in Südamerika macht mir die größte Sorge. Wenn der Regenwald eine gewisse Größe unterschreitet, kann er sich nicht mehr regenerieren. Wir würden dann nicht nur wichtige Arten verlieren, auch das Klima weltweit würde sich drastisch verändern. Dieser Regenwald ist also auch für uns in Deutschland enorm wichtig.
Wird man also den Brasilianern künftig viel mehr Geld geben, damit sie ihren Regenwald unter Schutz stellen?
Das Roden des Regenwalds schafft Arbeitsplätze. Darum muss man Alternativen bieten. Die reichen Länder sind also in der Tat gefordert, den schwächeren Ländern zu helfen. In Ländern mit noch hoher Biodiversität herrscht leider oft auch hohe politische Instabilität. Das kann die Weltgemeinschaft nur zusammen lösen. Leider waren die USA bei der Finanzierungsrunde in Rom gar nicht erst dabei. Wir als Kölner Zoo, der Tierschutzprojekte in Vietnam oder Laos unterstützt, sehen übrigens schon jetzt, welche schlimmen Folgen die aktuelle US-Politik hat.
Inwiefern?
Das Einfrieren der USAID-Gelder hat viele Menschen in Projekten weltweit über Nacht arbeitslos gemacht. Viele dieser Menschen müssen sich jetzt, um zu überleben, auch für umweltschädliche Alternativen entscheiden beziehungsweise fehlen im Naturschutz. Eine Katastrophe, die wir uns vor drei Monaten noch nicht hätten träumen lassen. Das wird große Auswirkungen haben.
Kölner Zoodirektor: "Wir haben auch in Deutschland wieder eine schöne Biberpopulation"
Die weltweiten Ausgaben für den Artenschutz sollen bis 2030 steigen. Deutschland will ab 2030 40 Milliarden Euro ausgeben, derzeit ist es nur etwa ein Zehntel. Halten Sie das für realistisch?
Ich bin jetzt 64 und habe schon viele Versprechen gehört in meinem Leben, die nicht gehalten wurden. Ich hoffe aber, dass diese Gelder auch freigegeben werden, weil sie schlicht zum Überleben der Menschheit wichtig sind. Die finanzielle Einigung war auf jeden Fall eine richtig gute Nachricht, die wir Naturschützer sehr gefeiert haben.
Kürzlich hat eine Biberfamilie in Tschechien mit ihrem Dammprojekt Furore gemacht. Ist die erfolgreiche Wiederansiedlung von Bibern ebenfalls eine gute Nachricht?
Definitiv. Wir haben auch in Deutschland wieder eine schöne Biberpopulation, die kostenlos für uns Landschaftspflege betreibt. Manchmal macht sie leider auch das Gegenteil und flutet Wiesen, auf denen eigentlich Rinder freilaufen sollen. Das finden natürlich nicht alle gut.
Kritisch sehen viele Menschen auch die invasiven Arten, Kanada- und Nilgänse hier in Köln etwa. Ihre Perspektive als Zoodirektor?
Invasive Arten, die Fauna und Flora schaden, muss man definitiv bekämpfen. Die Kanadagänse und Nilgänse gehören hier nicht hin und sind recht aggressiv. Der große Halsbandsittich ist in seiner Heimat Südostasien rückläufig, wir in Köln bauen eine Ersatzpopulation auf, die aber nicht hierhin gehört. In Australien führt man regelrecht Krieg gegen durch Menschen eingeführte Kaninchen, die die dortige Natur schädigen. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um?
Werden die invasiven Arten zunehmen?
Ja. Das Klima verändert sich, also können bestimmte Tierarten jetzt auch dort, wo sie früher nicht hätten überleben können, überleben. Das gilt leider auch für Mücken, die Malaria verbreiten. Krankheiten werden also zunehmen. Und ich will gar nicht erst über die wachsende Zahl von Viren sprechen, die das gleiche Potenzial haben wie Corona.
Auch für Unternehmen gehört der Verlust der Biodiversität zu den absoluten Top-Risiken in den nächsten zehn Jahren, hieß es beim Weltnaturgipfel in Rom. Rückt der wirtschaftliche Faktor von Artenschutz langsam mehr ins Bewusstsein?
Scheint so. Und es wäre auch wünschenswert, weil wir Menschen einfach gestrickt sind: Wenn ich bald keinen Arbeitsplatz mehr habe, um Geld zu verdienen, bin ich leichter zu überzeugen, etwas zu tun. Alles, was ich nicht spüre, dafür bekomme ich kein Bewusstsein. Es ist tragisch, dass sich die Naturkatastrophen häufen.
Immer öfter wird versucht, bedrohte Tierarten wieder in ihren natürlichen Lebensräumen anzusiedeln. Auch der Kölner Zoo hat da erfolgreiche Projekte vorzuweisen. Bei den Wisenten im Sauerland ist der Versuch aber spektakulär gescheitert. 2013 wurden acht Wisente im Rothaargebirge ausgewildert. Jetzt ist der Wisent-Trägerverein insolvent wegen Klagen von Waldbesitzern, deren Bäume durch die Tiere geschädigt wurden. Was ist da schiefgelaufen?
Ich fand es sehr schade, dass dieses Projekt gescheitert ist. Der Kölner Zoo war bei dem Projekt zuletzt beratend tätig. Aber letzten Endes ist es die gleiche Diskussion wie beim Biber, Wolf oder auch Elch, der im deutschen Osten wieder umhertrabt: Will die Gesellschaft das? In Indien erwarten wir, dass Menschen mit Elefanten und Tigern leben, obwohl es dort regelmäßig mit Menschen tödliche Unfälle gibt.
Was hätte man im Sauerland besser machen können?
Man hätte die dort lebenden Menschen besser mitnehmen können. Möglicherweise wäre man auch zum Schluss gekommen, dass das Gebiet nicht das richtige war. Wichtig ist aber immer die gesellschaftliche Akzeptanz. Wisente könnten auch irgendwann auf einer Autobahn stehen, es gibt einfach Risiken. Fürs Jagen gibt es diese breite Akzeptanz, auch wenn eine Minderheit dagegen ist.
Die Zahl der Wölfe steigt in Deutschland, auch in NRW gibt es immer mehr. Wie kann man Interessen von Wolf-Befürwortern und betroffenen Schafszüchter jemals unter einen Hut zu bringen?
Das ist ein schwieriges Unterfangen. Es gibt aber andere Länder, die seit Jahrhunderten mit Wölfen leben und es hinbekommen. Wir haben vergessen, wie man mit Wölfen lebt. In Gebieten mit viel menschlicher Besiedlung wird es mehr Konflikte geben. Früher oder später wird man auch in Deutschland Jagdquoten für Wölfe einführen müssen. Das sage ich jetzt sogar als Zoodirektor. Sonst lernt der Wolf nicht, sich vom Menschen fernzuhalten. Rotwild darf in Deutschland auch nur in bestimmten Bereichen leben, weil sie sonst zu große Waldschäden verursacht. Ich bin gespannt, was passiert, wenn ein Wolf mal ein Rennpferd im Wert von zwei Millionen Euro reißen sollte. Dann haben wir das Abschuss-Thema sofort auf dem Tisch.
Rudel Wölfe könnte ein großes Pferd reißen
Noch nicht mal ein Rennpferd ist zu groß für den Wolf?
Für ein Rudel nicht. Salopp kann man sagen: Ein Wolf ist auch nur ein Mensch. Wenn Sie den Kühlschrank voll haben, gehen Sie auch nicht einkaufen. Tiger und Löwen töten Menschen ja auch nur aus einem Grund: Wir sind eine einfache Beute. Das ist beim Wolf genauso, wenn er auf eine eingezäunte Schafherde oder ein Rennpferd auf der Wiese trifft. Natürlich sehe ich auch die Seite der Halter. Es ist sehr emotional, wenn da plötzlich drei tote Schafe auf der Wiese liegen.
Sie haben rund 11.000 Mitarbeitende im Kölner Zoo, wie Sie gerne sagen - alle Tiere zusammengerechnet von insgesamt 750 Arten. Wer ist aktuell Mitarbeitender des Monats?
Der kleine Elefant natürlich. Wir haben ja jetzt Nummer 14 begrüßen dürfen, einen Elefantenbullen, den Sohn von Marlar, der bekanntesten Elefantenkuh in Köln. Es ist ihr zweites Jungtier, sie ist eine erfahrene Mutter. Der Kleine bezaubert uns alle, auch wenn wir immer versuchen, da mit wissenschaftlichem und sachlichem Verstand ranzugehen. Er ist einfach zu süß.
Wie kommt das Elefanten-Baby jetzt an seinen Namen?
Wir bekommen gerade ganz viele Namensvorschläge eingeschickt, einer schöner als der andere. Über die besten drei werden wir in den kommenden Tagen über unsere sozialen Netzwerke abstimmen lassen. Am 30. März ist Elefantentag im Kölner Zoo, zu diesem werden wir den Namen bekanntgeben.
Letztes Wort zum Artenschutz: Was macht Ihnen Hoffnung?

Mir macht Hoffnung, dass so viele junge Menschen Interesse zeigen, dass viele Menschen auf die Straße gegangen sind für Klimaschutz. Hoffnung macht mir auch, dass die Zoologischen Gärten und andere Player wie Naturkunde-Museen ihren Teil dazu beizutragen, dieses wichtige Thema in die Gesellschaft hineinzutragen. © Kölner Stadt-Anzeiger