Rund 1700 Kinder sind vor kurzem in Leverkusen eingeschult worden, alle waren zuvor bei der Schuleingangsuntersuchung in ihrem Haus. Was zeichnet diese Generation von Erstklässlern ihrer Meinung nach aus?

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Dr. Alessandra Haeber: Ich berufe mich hier auf Zahlen aus dem Jahr 2023, weil uns diese vollständig vorliegen, die neuen Daten sind noch in Bearbeitung. Diese Kinder, die 2023 eingeschult wurden, sind tatsächlich stark von der Pandemie betroffen. Das zeigt sich auch in einer Erhöhung von Auffälligkeiten. Häufig fehlen Vorläuferfertigkeiten, die mit dem verminderten Kitabesuch zusammenhängen, wie Mengenwissen und Nachmalen von geometrischen Formen, was man normalerweise in der Kita übt.

Erklären Sie bitte kurz, wie eine Schuleingangsuntersuchung abläuft und worauf Sie besonders achten.

Wir machen einen standardisierten Screening-Test, der in ganz NRW einheitlich ist. Dieser besteht aus verschiedenen Untertests. Dazu kommen auch Hör- und Sehtests, eine körperliche Untersuchung und Impfstatuskontrolle. Beim Test geht es unter anderem um Hand-Auge-Koordination, Mengenvergleiche, Grob- und Feinmotorik und um das Sprachvermögen. Wenn wir glauben, dass bei einem Kind relevante Probleme bestehen, schreiben wir einen Brief an den Kinderarzt. Dieser entscheidet dann, ob weitere therapeutische Maßnahmen nötig sind. Wir geben den Eltern außerdem Tipps mit, wie sie mit ihren Kindern üben können, welche Spiele sinnvoll sind.

Wie viele Kinder, die eigentlich im schulfähigen Alter sind, werden in Leverkusen regelmäßig zurückgestuft?

Wir lagen 2023 bei etwa einem Prozent der Kinder, die zurückgestuft wurden, diese Zahl ist bei uns relativ konstant. Im Landesdurchschnitt sind es zuletzt 2,3 Prozent gewesen ist. Natürlich ist das eine Maßnahme, die infrage kommt. Die Kriterien dafür sind vom Gesetzgeber auch klar definiert. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Kinder erhebliche gesundheitliche Probleme haben, zum Beispiel eine Krebserkrankung, die den Kitabesuch nicht weiter ermöglicht hat. Darüber hinaus gab es vor einigen Jahren auch einen Erlass vom Ministerium, der auch sogenannte präventive Gesichtspunkte betont hat: Wenn Fachleute prognostizieren, dass sich durch den Schuleintritt zu diesem Zeitpunkt eine Überlastung des Kindes ergeben könnte und sich anhand der Zurückstellung eine bessere Schulperspektive in einem Jahr ergeben wird, dann ist das ein Grund. Die emotionale Reife spielt dabei eine Rolle.

Wer trifft diese Entscheidung?

Wir geben nur eine Einschätzung ab, die letzte Entscheidung trifft die Schulleitung, genauso wie bei Kindern, die verfrüht eingeschult werden sollen. Bei unserer Einschätzung handelt es sich immer um sehr individuelle Empfehlungen. Dafür berücksichtigen wir nicht nur diese Momentaufnahmen der Eingangsuntersuchung. Wir betrachten auch Berichte von Ärzten oder Therapeuten. Und sehr wichtig ist auch die Einschätzung des Kita-Personals. Das sind die Leute, die täglich mit dem Kind zu tun haben. Und deren pädagogische Einschätzung ist uns sehr, sehr wichtig. Es stellt sich dann auch immer die Frage, ob die Fördermöglichkeiten, die in Kindergärten bestehen, ausgeschöpft worden sind. Oder ob tatsächlich mit diesem zusätzlichen Jahr noch etwas zu erreichen ist, das dem Kind für eine spätere Einschulung bessere Perspektiven eröffnet. Manchmal sind die Möglichkeiten aber auch erschöpft und die Einschätzung der Kita ist, dass ein neues Bildungssetting dem Kind eher zugutekommt.

Was sind die häufigsten Gründe dafür, dass ein Kind als noch nicht schulfähig eingestuft wird?

Wie gesagt, schwere Erkrankungen sind ein Grund, oder wenn sich durch die Zurückstellung eine bessere Schulperspektive in einem Jahr ergeben wird. Aber auch bei den Kindern, die nah am Stichtag erst sechs Jahre alt werden, muss man natürlich sehr genau hinschauen. Emotionale Unreife im Alltag spielt bei diesen sehr jungen Kindern oft eine Rolle, etwa geringe Frustrationstoleranz. Grundsätzlich muss man sich gerade bei den jüngeren Kindern immer fragen, ob man ihnen einen Gefallen tut, wenn man sie schon in die Schule schickt, oder ob sie das überfordert.

Fehlende Sprachkompetenzen haben Sie jetzt gar nicht genannt.

Fehlende Sprachkenntnisse sind kein alleiniges Argument, die Einschulung zurückzustellen. Sondern hier teilen wir der Schule klar mit, dass ein Förderbedarf besteht. Mangelhafte Sprachkompetenz wurde in NRW zuletzt bei 32 Prozent aller Kinder festgestellt, in Leverkusen lagen wir bei 37 Prozent. Da ist die Förderung wirklich von großer Bedeutung, weil natürlich der Erwerb aller Fertigkeiten erschwert ist, wenn das Instrument der Sprache nicht zur Verfügung steht.

Fallen ihnen spezifische Defizite auf, die sich in letzter Zeit verstärkt haben ?

Studien belegen, dass in letzter Zeit Verhaltensauffälligkeiten zunehmen, im NRW-Schnitt betrifft das jedes zehnte Kind. Das ist zum einen sogenanntes expansives Verhalten, also Hyperaktivität, Impulsivität, Aggressivität oder Konzentrationsproblematik. Es gibt aber auch die andere Richtung, also eher oppositionell passive Kinder mit einer gedämpften Grundstimmung oder Kinder, die vermehrt Ängste zeigen.

Von Grundschulen haben wir gehört, dass es im aktuellen Jahrgang auch verstärkt Kinder gibt, die sich nicht von ihren Eltern trennen können. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?

Vereinzelte Fälle dieser Art habe ich in meiner Sprechstunde auch schon gesehen, aber von einer klaren Tendenz kann ich nicht sprechen. Trennungsängste hängen oft eng zusammen mit Bindungsproblem. Ich denke, die Pandemie hat sicherlich auch dazu beigetragen, weil durch geschlossene Kindergärten nicht die Möglichkeit bestand, soziale Kompetenzen mit Gleichaltrigen zu üben. Die Anpassungsfähigkeit an Gruppen hat durch die Einschränkung der sozialen Kontakte gelitten, das bekommen jetzt die Schulen zu spüren.

Sehen sie weitere Auswirkungen der Pandemie?

Dass Depressionen und Angststörungen bei Kindern ebenfalls zugenommen haben, belegen Studien. Ich persönlich sehe auch ein großes Problem mit dem Überkonsum von Bildschirmmedien, das sich in der Pandemie noch massiv verschlimmert hat. Man spricht auch vom digitalen Schnuller und das ist ganz schlecht für die Kinder. Wenn ich Kinderwagen sehe, an denen Bildschirmhalterungen angebracht sind – das ist schon tragisch. Ein Kind von unter drei Jahren sollte so weit entfernt von solchen Medien gehalten werden, wie möglich. Es ist bewiesen, dass Medienkonsum in dem Alter Veränderungen im Gehirn bewirkt und die gesunde Entwicklung negativ beeinflusst. Wir sind genetisch für eine dreidimensionale Welt angelegt und Kinder brauchen diese Eindrücke, um ihre Wahrnehmung zu trainieren.

Sie empfehlen also keine Medien unter drei Jahren, was gilt für das Vorschulalter?

Eine halbe, im Ausnahmefall eine Stunde pro Tag, aber das ist für mich schon die aller äußerste Grenze. Da bin ich rigoros.

Wenn die Landesregierung Sie fragen würde, was unternommen werden muss, um die Schulfähigkeit der Kinder zu verbessern – was würden Sie antworten?

Als allererstes mehr Ressourcen für die Sprachförderung. Die Schulen müssen sehr viel auffangen und kommen an ihre Grenzen, da braucht es mehr finanzielle Mittel. Außerdem wären mehr Beratungsangebote für Eltern wünschenswert, zum Beispiel in Sachen Medienkonsum. Es gibt Eltern, die stolz sind, wie gut ihr Einjähriges schon mit dem Handy umgehen kann. Denen muss man ganz genau erklären, warum das schlecht ist. Und ihnen Orientierung geben.

Zur Person

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Dr. Alessandra Haeber ist Kinder- und Jugendärztin und seit 20 Jahren für den medizinischen Dienst der Stadt Leverkusen tätig. Sie beschäftigt sich überwiegend mit den Schuleingangsuntersuchungen für künftige Erstklässler. Jedes Kind im schulfähigen Alter wird dazu per Brief von der Stadt Leverkusen eingeladen. Die Teilnahme ist verpflichtend.  © Kölner Stadt-Anzeiger

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