Gerne geht Rolf Kirchner nicht. Wenn der 73 Jahre alte Sozialarbeiter im Dezember den längst verdienten Ruhestand antritt, dann gibt es für seine Kollegin Korina Schiffbauer und seine Nachfolgerin Karin Gockeln Arbeit mehr als reichlich.
"Es gilt noch so viele Aufgaben zu erledigen – nicht nur für uns, sondern für die Gesellschaft ganz allgemein." So sieht der Nümbrechter der nahen Bundestagswahl mit großer Sorge entgegen: Trifft der Rotstift den sozialen Bereich, dann könnte ein Betreuungsangebot auf der Kippe stehen, das sich in Oberberg etabliert und längst bewährt hat. Kirchner und die beiden Frauen arbeiten mit sogenannten Systemsprengern.
Fachkräfte wollen den sogenannten Systemsprengern vor allem Verlässlichkeit vermitteln
Das sind Menschen, die auffallen, die anecken, die ausgestoßen werden, die womöglich die Wohnung verloren haben und in einer Notunterkunft ihr Dasein fristen, dort aber alles auf den Kopf stellen. Und Menschen, die wieder und wieder durchs soziale Raster fallen, die unerreichbar sind für die Anbieter und Institutionen sozialer Hilfe – weil sie solche Hilfe ablehnen, sich ihr entziehen, weil sie ein Leben abseits der Gesellschaft leben und mit ihr gebrochen haben. Ein Leben, das allein den eigenen Regeln folgt. Ein Leben, in dem auch Alkohol und Drogen, Gewalt und meist psychische Erkrankungen eine große Rolle spielen.
"Es sind Menschen, die ohnehin keine Lobby haben und die bei Einsparungen erneut das Nachsehen hätten", sagt Kirchner. "Und es sich Menschen, die vor allem eines brauchen: Verlässlichkeit." Solche Menschen auszugrenzen, erst das mache sie gefährlich. "Sie scheuen nicht mal den Knast – der biete ihnen wenigstens ein Dach über dem Kopf, sagen sie."
Was im Januar 2019 als Pilotprojekt in der Verantwortung der Diakonie Michaelshoven begonnen hat, das ist seit dem 1. Januar 2021 ein festes Angebot der Wohnhilfen Oberberg unter dem Dach der Diakonie. Geldgeber dafür sind der Landschaftsverband Rheinland und der Oberbergische Kreis.
Fast 90 Menschen gelten heute im gesamten Kreisgebiet als "Systemsprenger", zehn von ihnen leben in Oberbergs Süden. Sie sind die Menschen, um die sich Rolf Kirchner, die Reichshoferin Korina Schiffbauer (55) und nun auch Karin Gockeln (39) aus Windeck tagtäglich kümmern – weil es niemand sonst tun würde. "Wir kennen sie und wir kennen ihre Geschichten", sagt Kirchner und betont: "Idioten sind das nicht, sondern Menschen, die sehr viel mitgemacht, sehr viel erlitten haben." Wer als "Systemsprenger" gilt, das entscheidet der Gemeindepsychiatrische Verbund, ein Zusammenschluss der Leistungserbringer in der Psychiatrie.
In Waldbröl bietet auch das Haus Segenborn Menschen ein Obdach, denen der Verlust der Wohnung droht
Immer haben die Drei ein offenes Ohr und vor allem einen langen Atem. Es brauche viel, sehr viel Zeit, um Vertrauen aufzubauen und jene Menschen dazu zu bewegen, doch Unterstützung zuzulassen und zum Beispiel den Schritt in eine Therapie oder den Umzug in ein betreutes Wohnen, wie zum Beispiel im Haus Segenborn, zu wagen. "Manchmal geht es aber auch einfach nur darum, den Antrag auf Bürgergeld auszufüllen", schildert Schiffbauer und blickt zurück: "Vor 2019 gab es im vorhandenen System einfach keine Möglichkeit, diesen Menschen zur Seite zu stehen." Denn um Verlässlichkeit zu schaffen, brauchen die drei viel Freiheit und einen Arbeitsalltag, den sie selbst gestalten.
"Festgelegte Verfahren sind hier völlig fehl am Platz", betont Kirchner. Zwar gibt es feste Tage, an denen die drei sechs kommunale Unterkünfte in Waldbröl, Reichshof, Morsbach, Nümbrecht und Wiehl sowie andere Adressen ansteuern. Was aber dann dort geschieht, entscheiden Klient und Klientin, wie Kirchner sagt. "Oder deren Zustand." Angst habe er selten. "Aber wenn wir unterwegs sind, dann mit allen Synapsen, sehr viel Empathie und einer Art Radar, mit dem wir jederzeit alles um uns herum wahrnehmen." Und werde es brenzlig, sei der sofortige Rückzug angesagt. "Wir gießen kein Öl ins Feuer, sondern sagen, dass wir gern ein anderes Mal wiederkommen. Das wird geschätzt."
Neue Kraft in Team kommt aus Waldbröls Nachbargemeinde Windeck
Von besonders kreativen, herausfordernden, sogar spannenden Menschen spricht indes seine Kollegin Schiffbauer. "Die wichtigste Regel für uns ist, dass es keine Regel gibt." Aber gerade das sei der Reiz gewesen, nach 14 Jahren in Wohnheimen 2021 für die Arbeit an die Seite von Rolf Kirchner zu wechseln, sagt die gelernte Erzieherin.
Auch die Heilerziehungspflegerin Karin Gockeln ist bei den Wohnhilfen beschäftigt, seit 2017. In den vergangenen Monaten ist sie oft mitgegangen mit Kirchner und Schiffbauer. "Ich habe bereits zuvor viele Menschen kennengelernt, die vernarbt sind vom Leben – und die eine neue Chance verdienen", beschreibt die Windeckerin ihre Motivation. Im Süden Oberbergs ist eine Vollzeitstelle für diese Arbeit eingerichtet, diese teilen sich nach Kirchners Abschied dann die beiden Frauen.
Der Erfolg dieser Arbeit misst sich an kleinen Dingen. Von einer Ausnahme, einem "krassen Menschen", erzählt Rolf Kirchner umso lieber: Fast hätte sich der Waldbröler, so sagt Kirchner, totgesoffen. "Ich sagte ihm, dass ich bald auf dem Friedhof vorbeischaue, um ihn am nächsten Wohnort zu besuchen." So habe sich der Mann wider Erwarten doch auf den Versuch eines betreuten Wohnens eingelassen. "Heute hat er eine Perspektive, sieht gut aus und ist recht stabil. Ich hatte ihn damals beinahe aufgegeben."
Wenn so jemand anrufe und ihr gestehe, dass er Mist gebaut habe, dann sei dies ein echter Vertrauensbeweis, ergänzt Korina Schiffbauer. "Wir kommen immer vorbei – egal, was passiert ist." Sie begleite eben Menschen, die nie begleitet wurden. "Und manchmal geht es nur noch darum, dass jemand nicht alleine stirbt."
Immer gehe es darum, die Würde des Menschen zu wahren, schildert Rolf Kirchner, die sei unantastbar. Das möchte sich seine Nachfolgerin Karin Gockeln für die künftigen Herausforderungen zu eigen machen, allerdings mit einer kleinen Änderung: "Das Recht auf Eigentümlichkeit ist ebenfalls unantastbar."
Besonders eng vernetzt in Waldbröl
Die Arbeit in Waldbröl beschreiben Korina Schiffbauer und Rolf Kirchner als besonders effektiv, da dort ein sehr enges Netzwerk gewachsen sei. Alle zwei, spätestens alle drei Monate gibt es in der Marktstadt eine feste Gesprächsrunde mit dem Ordnungsamt und der Sozialverwaltung sowie den Bezirksbeamten der Polizei. "So etwas entsteht gerade auch in Wiehl", freut sich Rolf Kirchner.
Seit Januar 2019 haben er und später auch Korina Schiffbauer im Süden Oberbergs insgesamt 47 Menschen betreut, die als "Systemsprenger" gelten. Bei der Diakonie Michaelshoven sind dafür und für das gesamte Kreisgebiet 3,5 Vollzeitstellen angesiedelt, eine ist für den Kreissüden eingerichtet, "Nord" und "Mitte" sind die anderen Bezirke. In den vergangenen zwei Jahren sind vier dieser Menschen gestorben. © Kölner Stadt-Anzeiger
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