Eines vorweg: Jede Form von Gewalt gilt es zu verurteilen – sei es seelische oder auch körperliche. Deshalb ist das, was am frühen Morgen des 21. Dezember in einer Kneipe in Alt-Hürth geschehen ist, durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen oder zu legitimieren: Zwei Männer geraten am Tresen in Streit, dann stößt einer der beiden – er trägt einen Weihnachtspullover – den anderen, bevor er ihm mit gestrecktem Bein einen Tritt in den Bauch versetzt. Er trägt Prellungen und ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma davon.
Der Staatsschutz der Polizei Köln ermittelt wegen gefährlicher Körperverletzung. Dass Staatsschützer den Zwischenfall aufklären sollen, zeigt: Es hat sich offenbar nicht um eine Auseinandersetzung gehandelt, zu der es an Wochenenden vermutlich regelmäßig in Deutschlands Kneipen kommt. Teil der Ermittlungen ist es zu untersuchen, ob es sich um eine politisch motivierte Attacke gehandelt hat.
Beide Seiten erstatten Anzeige nach Prügelei in Hürth
Das mutmaßliche Opfer ist der Hürther AfD-Politiker Norbert Raatz, der mutmaßliche Angreifer der SPD-Politiker Lukas Gottschalk. Beide kennen sich aus dem Hürther Stadtrat. Die AfD hat nicht viel Zeit verloren, um den Vorfall öffentlich zu machen. Schon am Montag veröffentlichte Kreissprecher Jeremy Jason ein Statement, in dem er die Auseinandersetzung als "Angriff auf die Demokratie" verurteilte, die sich in eine Serie von Angriffen auf Vertreter seiner Partei bundesweit einreihe. Er fordert einen stärkeren Schutz für seine Mitglieder.
In sozialen Netzwerken veröffentlicht die AfD Rhein-Erft zudem ein Video, das das Geschehen an jenem Samstagmorgen um 5.35 Uhr in der Kneipe zeigen soll: Ein verbaler Streit eskaliert, in dem akustisch schlecht zu verstehenden Dokument fallen Worte wie "Nazi", bevor der Mann im Weihnachtspulli (Gottschalk) zu körperlicher Gewalt greift. Er habe sich provoziert gefühlt, sagt der SPD-Mann nachher. Raatz und seine Begleiter hätten sich rassistisch und menschenverachtend über den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg geäußert. Gottschalk und seine Begleiter haben daher ihrerseits Anzeige erstattet.
Warum überwacht der Hürther Gastwirt seinen Schankraum?
Es bleiben Fragen: Wieso überwacht ein Wirt seinen Schankraum mit Kameras? Was veranlasst ihn, die Aufnahmen zunächst Raatz und der AfD auszuhändigen – und erst dann der Polizei im Zuge deren Ermittlungen? Ist es ihm – und der AfD – bewusst, dass er sich damit womöglich strafbar gemacht hat, indem er gegen Persönlichkeitsrechte und den Datenschutz verstoßen hat? Zeigt der Ausschnitt, der veröffentlicht wurde, die gesamte Situation, die zu der Aggression geführt hat – die aufs Schärfste verurteilt werden muss?
Die SPD versucht sich nun in Krisenmanagement. Der Ortsverein in Hürth schreibt von einer Privatangelegenheit, die nichts mit Gottschalks politischem Engagement zu tun habe. Vom Kreisvorsitzenden Helge Herrwegen ist gar nichts zu hören. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass es ihm nicht ausreicht, dass Gottschalk seine politischen Ämter ruhen lässt. Mit dessen Rücktritt könnte die SPD freilich befreiter in den Bundestagswahlkampf ziehen.
Nutznießerin ist die AfD. Sie macht sich den mutmaßlichen Angriff auf eines ihrer Mitglieder dergestalt zunutze, sich in die vielfach erprobte Opferrolle zu begeben. Wobei der "Angriff auf die Demokratie" die Frage aufwirft, wie es die AfD selbst damit hält. Auch Persönlichkeitsrechte und Datenschutz sind schützenswert. Verliererin ist dabei die Demokratie. © Kölner Stadt-Anzeiger
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