"Es heißt immer, an Weihnachten musst du bei deiner Familie sein. Du sollst vergeben und vergessen. Und trotzdem sitzt du für zwei Stunden alleine heulend in deinem Zimmer."
So wie Fynn (22) aus Bad Honnef geht es vielen queeren Menschen während der vermeintlich schönsten Zeit im Jahr. Auf engem Raum viel Zeit mit der Familie zu verbringen kann besonders dann herausfordernd und schmerzhaft sein, wenn diese die eigene Identität und Lebensweise nicht akzeptiert.
"Bis vor zwei, drei Jahren noch hab‘ ich Weihnachten total geliebt. Sobald ich mich aber mehr mit meiner eigenen Queerness auseinandergesetzt habe, ist das viel schwieriger geworden", sagt Fynn. Fynn ist genderfluid und pansexuell. Das heißt, sie identifiziert sich nicht immer mit einem bestimmten Geschlecht, nutzt daher verschiedene Pronomen und fühlt sich unabhängig von deren Geschlechtsidentität zu Menschen hingezogen.
Angst, sich vor der eigenen Familie zu outen
Da Fynn nur wenigen Familienmitgliedern gegenüber geoutet ist, haben wir seinen Namen hier geändert. Weihnachten verbringt seine Familie immer im großen Kreis mit Tanten, Onkels und Großeltern. Fynn ist sehr unsicher, ob sie sich dieses Jahr ihrer erweiterten Familie gegenüber outen möchte: "Ich habe letztes Weihnachten von einer befreundeten Person erzählt, die auch genderfluid ist. Da hat meine Tante nur mit den Augen gerollt und es kamen Sprüche wie: ‚da bin ich ja raus‘. Wenn sie schon gegenüber einer fremden Person so ablehnend reagieren, wie soll das dann aussehen, wenn ich das von mir erzähle?"
Anders als Fynn hat Noa (22) sich jetzt zum zweiten Jahr infolge dagegen entschieden, Weihnachten mit ihrer Familie zu verbringen: "Für mich sind Wohlbefinden und Familie nicht vereinbar." Fynn und Noa kennen sich aus dem Geschichtsstudium in Bonn und arbeiten heute beide ehrenamtlich für das Projekt SCHLAU Rhein-Sieg. Angedockt an die Beratungsstelle Check.it organisieren sie Workshops zur sexuellen, romantischen und geschlechtlichen Vielfalt für Jugendliche im Rhein-Sieg-Kreis.
"Ich komme aus einer sehr strengen, kontrollierenden, katholischen Familie, mit Eltern, die sehr starre Werte haben", erzählt Noa. Auch ihren Namen haben wir zu ihrem Schutz geändert. "Meine Familie liebt mich, aber sie mag mich nicht. Sie akzeptiert mich nicht mit allem, was zu mir gehört."
Sie habe sich ihrer Familie gegenüber zuerst als bisexuell und dann als queer geoutet, was nicht gut gelaufen sei, erzählt Noa. An Weihnachten vor drei Jahren fand sie heraus, dass ihre Eltern ihr Outing nie ernst genommen hatten: "Meine Mutter dachte, ich hätte nur gesagt, dass ich nicht heterosexuell sei, um sie zu verletzen."
Lieber mit Freunden als mit der Familie Weihnachten feiern
Im Kontext ihres Queerseins änderte Noa auch ihren Vornamen. Ihre Familie spreche sie aber immer noch oft mit ihrem abgelegten Namen an: "Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass das eine schwierige Umgewöhnung ist. Aber auch mein gesamter Freundeskreis hat das hinbekommen – weil die das ernst nehmen."
Für Noa und Fynn ist es besonders belastend, dass von ihnen erwartet wird, den Anschein von Harmonie zu bewahren und Konflikte beiseite zu schieben, unabhängig davon, wie es ihnen geht. "Es gibt einen Teil von mir, der sich wünscht, dass wir nicht so zerstritten wären, dass wir einfach ein schönes Weihnachtsfest zusammen feiern könnten", sagt Noa, "aber leider sind viele meiner Familienmitglieder nicht bereit, die Gespräche zu führen, die dafür notwendig wären."
Zum zweiten Mal schon feiert Noa dieses Jahr mit der Familie eines Freundes, den sie ebenfalls über SCHLAU Rhein-Sieg kennt. "Da bin ich nicht die einzige queere Person, ich fühle mich dort akzeptiert und kann sein, wie ich bin." Die Familie hat sie bereits als "Ersatztochter" aufgenommen.
Am 27. Dezember feiert ihr gemeinsamer Freundeskreis aus dem SCHLAU Rhein-Sieg-Team jährlich ein gemeinsames Weihnachtsfest. "Darauf freue ich mich mittlerweile mehr als auf Weihnachten selbst - weil ich mich da so viel freier fühle", sagt Fynn.
Homophobe Attacken und kein Rückzugsort
Auch Ocean (24) aus Siegburg hadert jedes Jahr erneut damit, ob sie Weihnachten mit ihrer Familie verbringen soll oder nicht: "Jedes Jahr, wenn wir großes Familientreffen haben, muss ich mein Dasein anpassen, was mich sehr viel Energie kostet. Ich mache das nicht für mich, sondern nur für meine Mutter. Ich will nicht, dass sie zwischen den Stühlen steht."
Ihrer Kernfamilie gegenüber ist Ocean als nicht-binär und queer geoutet. Oceans Eltern kommen aus Süditalien: "Sie sind sehr konservativ aufgewachsen und hatten immer ein komplett anderes Weltbild – aber sie bemühen sich, mich zu verstehen." Letztes Jahr an Weihnachten wurde Ocean von der Frau ihres Onkels homophob angegangen. "Ich bin dann rausgerannt. Wir sind zu vierzehnt in einer kleinen Wohnung, da habe ich keinen Rückzugsort."
Zweimal pro Woche geht Ocean zum queeren Jugendtreff "Q" in Troisdorf. Der Safe-Space für queere Jugendliche bis zu 27 Jahren steht ebenfalls unter der Förderung der Check.it-Beratungsstelle für Sexualität und Gesundheit im Rhein-Sieg-Kreis.
Dienstags und donnerstags finden in der Hippotylusstraße offene Treffen statt, dazu gibt es ein umfassendes Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche, Eltern und Fachkräfte. "Der Jugendtreff gibt mir ein Sicherheitsnetz, ich kann mich mit anderen queeren Jugendlichen austauschen", sagt Ocean. "Hier muss ich mich nicht verstecken." © Kölner Stadt-Anzeiger
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