Mariehamn (dpa/tmn) - Johanna Delfs empfängt ihre Gäste bereits auf der Außentreppe. Mit dem Häubchen und der weißen Schürze katapultiert allein der Anblick der Inhaberin die Ankommenden um 100 Jahre zurück. Tritt man durch die Tür des Carlsro Badhotell in Föglö, steht man in einem aus Holz eingerichteten Lebensmittelladen aus den 1930er Jahren mit dem schönen Namen Delikatessbutik.
Dort steht bereits Delfs Mann Ebbe hinter dem Tresen - mit Mütze, Fliege und Lederschürze. "Wir tragen das nicht nur heute, sondern immer solange wir unsere Gäste bedienen", sagt die 35-jährige. So geht Zeitreise. Und den Besuchern gefällt es.
Johanna Delfs stammt aus Mariehamn, der Hauptstadt der Provinz Åland. Damit ist sie eine echte Ålanderin. Im Gegensatz zu ihrem Mann. Ebbe Delfs stammt aus dem süddänischen Vejlje. Das Paar lernte sich einst in Kopenhagen kennen. Beide hatten dort gut bezahlte Jobs, stellten sich aber nach der Geburt ihres Kinds die Sinnfrage.
Also kauften sie 2019 das damals leerstehende Gebäude in Föglö im Süden Ålands und renovierten es. 2020 eröffneten sie ein Restaurant, im Jahr darauf folgte das Badehotel nach dänischem Vorbild. Wegen der Corona-Pandemie nicht der optimale Zeitpunkt, aber nun läuft es rund. "In Finnland kennt man das nicht so. Dänemark hat dagegen mit Badehotels eine 150-jährige Tradition", sagt Johanna Delfs.
Sauna und Smørrebrød
Nur wenige Meter vom Hotel entfernt steht die zum Hotel gehörende Sauna mit Blick auf die Ostsee. Saunieren mit anschließendem Sprung ins Meer ist für viele Finnen die einzig wahre Variante. Auch auf den Åland-Inseln, die zwar zu Finnland gehören, aber als autonome Region großen Wert auf ihre Eigenständigkeit legen, hat man diese typisch finnische Freizeitbeschäftigung übernommen.
Danach servieren die Delfs` - typisch dänisch - Smørrebrød. Das heißt zwar übersetzt "Butterbrot", aber tatsächlich handelt es sich um wahre Brot-Kunstwerke mit grünem Spargel, Shrimps, Kartoffeln, Salat und Mayonnaise. Dazu passt das Bier einer lokalen Brauerei oder ein leicht säuerlicher Apfelsaft.
Åland mit seinen Tausenden Schären und Inseln ist sehr schwedisch. Schwedisch ist auf Åland auch die einzige offizielle Amtssprache. Seit 1922 hat die autonome Provinz zudem das Recht, in vielen Bereichen eigene Gesetze zu erlassen: Schulen, Polizei und Gesundheit gehören dazu. Delfs sagt: "Wenn ein Ålander zum Festland fährt, dann sagt er: Er fährt nach Finnland."
Autonom und demilitarisiert
Wer mit einer der vielen Fähren in Mariehamn ankommt, sieht am Hafen zunächst ein großes Schild, auf dem steht, dass Åland autonom und demilitarisiert ist. Tatsächlich dürfen Soldaten die Insel nicht betreten. Junge Ålander müssen nicht zum finnischen Militär. Das liegt auch an der wechselvollen Geschichte des strategisch günstig zwischen Schweden und Finnland gelegenen Archipels.
Vom 17. Jahrhundert an gehörten die Inseln wie auch das finnische Festland zum damals mächtigen Schweden. Von 1809 war Finnland samt Åland mehr als 100 Jahre als autonomes Fürstentum Finnland Teil des russischen Zarenreichs. Finnland wurde erst 1917 unabhängig, die Autonomie der Ålands folgte nach einem Tauziehen um die Inseln zwischen Finnland und Schweden vier Jahre später.
Eines der wichtigsten Überbleibsel dieses historischen Hin und Her ist die verfallende Festung Bomarsund an einer strategisch wichtigen Meerenge. Die Russen bauten die Festung Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Heute liegen die Ruinen idyllisch zwischen Wald und Ostsee. Erkunden lässt sich die Historie auf einem gut vier Kilometer langen Wanderweg. Es geht querfeldein, immer wieder öffnet sich das Panorama zum Meer samt den umliegenden Inseln.
Wie der Krieg noch bis heute nachwirkt
Auch in den Lebensgeschichten der Familien auf den Åland-Inseln finden sich Spuren der wechselhaften schwedisch-finnisch-russischen Geschichte. So wie bei Ella Grüssner Cromwell-Morgan.
Sie ist Inhaberin des Kvarnbo Pensionats bei Saltvik, unweit von Mariehamn im Landesinneren gelegen. Außerdem ist sie Musikerin und Sommelière. Das Hotelgebäude stammt von ihrer Großtante.
Nur wenige hunderte Meter entfernt liegt noch das Haus ihrer Großmutter, deren Familie früher schon ein Gästehaus betrieb und welches sie eigentlich auch gerne zu einem Hotel ausgebaut hätte.
Das Problem: Ellas Großmutter heiratete kurz vor dem Zweiten Weltkrieg einen deutschen Gast. Von daher stammt Ellas deutscher Namensteil Grüssner. Weil sich Finnland im Laufe des Krieges mit Deutschland verbündet hatte, betrachteten die Russen das Haus des deutsch-ålandischen Paares nach Kriegsende als Feindeseigentum - und konfiszierten es.
"Sie schmissen meine Großmutter samt Kindern hinaus und steckten sie zwei Jahre in ein russisches Lager", erzählt die 45-Jährige. Noch heute gehört das Gebäude dem russischen Staat. Alle Versuche, das Haus zurückzubekommen, scheiterten in Angaben nach bislang.
Der Friedhof der Schiffswracks
Von der Provinzhauptstadt Mariehamn erreicht man einen weiteren wichtigen Ort Ålands: die kleine Insel Kobba Klintar. Der Wind bläst kräftig auf dem kleinen Motorboot, während Kapitän Bo-Erik Westberg die Schäre ansteuert. Sie ist eine von rund 6700 Åland-Inseln, und doch eine ganz besondere.
Kobba Klintar ist die Pilotinsel, auf der früher Lotsen den Schiffen halfen, durch die Untiefen in Richtung Mariehamn zu navigieren. Kein Leuchtturm, sondern drei schlichte Holzhäuser stehen heute noch auf den Felsen. In dem größten Haus befindet sich eine Art Museum. Ein modernes Gebäude mit der Form eines Zeltes dient Besuchern als windgeschützter Ausguck. Durch die Panoramafenster können sie vorbeiziehende Fähren und Kreuzfahrtschiffe sehen.
Von der Notwendigkeit dieser Navigationshilfe zeugen zahlreiche Wracks, die auf dem Meeresboden vor sich hin rotten. Auf dem Rückweg navigiert Westberg gekonnt auf einen bestimmten Punkt auf dem Meer zu. Dann zeigt er auf den Bildschirm seines Echolots. In genau 35,8 Meter Tiefe sind im dunklen Wasser braune Bretter und Masten zu erkennen, die sich wenige Sekunden später als Wrack entpuppen.
Es ist eines von rund 500 registrierten Schiffswracks, die nach Angaben der finnischen Marine rund um die Inseln liegen. Die Dunkelziffer soll weiter höher sein.
Zeitreise unter Wasser
Registriert ist unter anderem der deutsche Eisbrecher Hindenburg, der 1918 mit einer Mine aus dem Packeis kollidierte und daraufhin im Westen der Inselgruppe sank.
Das Schiff liegt zwischen 37 und 47 Meter Tiefe. Heute können erfahrene Taucher diese Wracks mit Erlaubnis erkunden - und sich damit unter Wasser auf eine Zeitreise 100 Jahre in die Vergangenheit begeben.
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