Ein Tor per Distanzschuss kurz hinter der Mittellinie? Früher waren Treffer wie diese ein sicherer Kandidat für das Tor des Jahres. Doch mittlerweile fallen sie immer häufiger. Warum ist das so?
Als Alex Alves von Hertha BSC im April 2000 gegen den 1. FC Köln zum 1:2-Anschluss traf, da sprachen Fans und Experten unisono vom Tor des Jahrhunderts. Selten zuvor hatte man es in der Bundesliga gesehen, dass ein Spieler direkt vom Anstoßpunkt abzog - und das auch noch erfolgreich.
Ebenso erinnert sich fast jeder Fußballfan in einem gewissen Alter an Klaus Augenthalers Treffer vom August 1989 gegen Eintracht Frankfurt, erzielt aus 49 Metern. Das Tor, bei dem Augenthaler Frankfurts weit aufgerückten Keeper Uli Stein mit einem spektakulären Weitschuss überraschte, wurde quasi ohne Konkurrenz zum Tor des Jahres gewählt. Ein Tor aus weiter Entfernung, das war in der Bundesliga lange eine seltene und hochgeschätzte Kunst.
Mittlerweile sieht die Sache ein bisschen anders aus. Zuschauer, die im Oktober 2023 an der Wahl zum Tor des Monats im Oktober teilnahmen, konnten sich gleich zwischen vier Weitschusstoren verschiedener Art entscheiden - neben Florent Muslija, Antonia Halverkamps und Fabian Schleusener war darunter auch ein Treffer von Bayern-Star
Doch auch der Bayern-Neuzugang ging leer aus: Die meisten Stimmen für das Tor des Monats erhielt am Ende der Leverkusener
Modernes Torwartspiel birgt Risiken
"Der mitspielende Torwart definiert das Gefühl von Risiko im Fußball neu", erklärte Taktikexperte und Buchautor Jonathan Wilson im Oktober im "Guardian". Damit meinte er das moderne, hoch stehende Torwartspiel, das vor allem durch Manuel Neuer in Deutschland populär und perfektioniert wurde.
Und tatsächlich findet man in der Spielweise vieler Profimannschaften eine erste Erklärung für die zahlreichen Weitschusstore. Wilsons These: Dadurch, dass Torhüter auf höchster Ebene heute eben nicht mehr nur die Aufgabe haben, Schüsse abzuwehren, sondern den Raum hinter hoch stehenden Verteidigungslinien abzusichern und im eigenen Ballbesitz sogar Angriffe einzuleiten, werden diese auch fehleranfälliger, weil sie bei einem Gegenangriff nicht immer in Position stehen.
Der Mehrwert dieses aktiv am Spiel beteiligten Torhüters scheint für die Vereine so groß zu sein, dass sie dafür auch das hohe Risiko für schnelle Gegentore aus der Distanz akzeptieren. So stand im Falle des Kane-Tors Darmstadts Torhüter Marcel Schuhen der Mittellinie fast näher als seinem eigenen Tor, und das, obwohl die Lilien gegen den FC Bayern die klar unterlegene Mannschaft waren. Ein taktisches Phänomen, dass man nicht nur in der Bundesliga immer öfter zu Gesicht bekommt. Das haben auch die Spieler mittlerweile bemerkt - und nutzen es immer erfolgreicher aus.
Torwarttrainer moniert fehlendes Training
Ist also alles nur ein Taktikproblem? Nicht ganz. Für Michael Kraft, der einst bei Werder Bremen und Eintracht Frankfurt als Torwarttrainer arbeitete und aktuell das Torwartteam des Drittligisten Viktoria Köln betreut, sind Distanzschüsse ein zentrales Thema seines Trainings. Kraft kann seine Übungen bis ins kleinste Detail erklären, die weiten Fernschüsse aufs Tor nennt er dabei "Hoher Ball Rück".
Warum Weitschusstore immer häufiger werden? "Es wird zu wenig trainiert", ist Krafts dann doch einfache, aber klare Antwort im Gespräch mit unserer Redaktion. Von zehn Torwarttrainern gebe es vielleicht einen, bei denen lange Distanzschüsse auch ein Teil des Trainings wären, vermutet er. In seinem Training gehören sie hingegen selbstverständlich dazu: Regelmäßig spielt er seinen Torhütern weite, hohe Bälle aus unterschiedlichen Entfernungen zu, die sie neben oder hinter das Tor lenken müssen. Die Keeper selbst stehen dabei erst etwa drei Meter, dann sogar noch weiter vor dem Tor.
Die Torhüter verlieren bei langen Bällen eine Menge Zeit, weil die Bewegungsabläufe nicht stimmen, sagt Kraft. Wenn er die zahlreichen Weitschusstore analysiert, sehe er etwa, dass sich die Torhüter falsch drehen, grundlos in eine tiefe Stellung gehen oder in der ersten Reaktion sogar noch einen Schritt nach vorne machen. Fehler, die dazu führen, dass der lange Ball am Ende nicht mehr erreicht werden kann - aber auch Fehler, die man durch gezieltes Training beheben könne.
"Wenn das Team in der eigenen Hälfte den Ball verliert und der Gegenspieler zum Schuss ansetzt, darf ich als Torhüter nicht überrascht sein", sagt Kraft. "Wenn man die Abläufe von Anfang an lernt, kann man sie auch besser umsetzen."
Kraft: "Das bleibt leider ein bisschen auf der Strecke"
Aber ist das bei den modernen Anforderungen an den mitspielenden Torwart nicht zu viel verlangt? Klar brauche es auch einen Torwart, der technisch stark genug ist, die Rolle als mitspielender Keeper auszufüllen, weiß Kraft. Dass die Schlussleute mittlerweile auch spielerisch mit den Kollegen auf dem Platz mithalten könnten, habe sich in Deutschland klar verbessert, sagt er.
Ein bisschen kritisch wird es dann aber doch. "Der Punkt ist: Wir geben Konzepte vor, dass der Torwart während eines Spiels hoch steht und mitspielt. Dann muss man aber auch für solche langen Bälle auf das eigene Tor eine Lösung haben", sagt der Torwarttrainer. "Das bleibt aber leider ein bisschen auf der Strecke." Ganz verhindern könnte man Weitschusstore im modernen Torwartspiel am Ende nicht. Aber wenn sie trotz richtiger Abläufe im Tor landeten, dann sind sie am Ende eben auch gut geschossen.
Über den Gesprächspartner
- Michael Kraft ist seit Sommer 2023 Torwarttrainer beim Drittligisten FC Viktoria Köln. Zuvor trainierte er in der Bundesliga die Torhüter von Werder Bremen (2006 bis 2013) und Eintracht Frankfurt (2013 bis 2014), zwischendurch arbeitete er in China und der Türkei. Auf seinem Instagram-Account gibt der Ex-Torhüter des 1. FC Köln regelmäßig Einblicke in sein Training.
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Torwarttrainer Michael Kraft
- sportschau.de: Tor des Monats Oktober
- sportschau.de: Tor des Monats September
- guardian.co.uk: The sweeper-keeper is redefining soccer’s sense of risk
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