Joshua Kimmich wird beim FC Bayern allem Anschein nach zurück ins Mittelfeld wechseln und damit zu einer zentralen Figur der Ära Kompany. Wenn er die Chance nutzt, ist er der erste Kandidat auf die Nachfolge von Manuel Neuer als Kapitän der Münchner. Nutzt er sie nicht, spricht fast alles für einen Abschied im nächsten Sommer.

Steffen Meyer
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Steffen Meyer dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Eigentlich ist es merkwürdig, wie sehr die Meinungen über Joshua Kimmich nach wie vor auseinandergehen. Nicht nur unter Journalisten und Experten, sondern auch unter Bayern-Fans. Kimmich, der bisher achtmal Deutscher Meister wurde, dreimal den Pokal und einmal die Champions League gewann, polarisiert nach wie vor.

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Der 29-Jährige gehört seit mindestens 2017 zum Stamm der Münchner. Kein Spieler stand seitdem häufiger in der Startelf des FC Bayern. Nicht Manuel Neuer. Nicht Thomas Müller. Nicht Leon Goretzka oder Serge Gnabry. Mindestens 25 Mal in jeder Saison seit 2017. Kein Trainer wollte lange auf ihn verzichten. Nicht Guardiola. Nicht Ancelotti. Nicht Flick. Nicht Tuchel und erst recht nicht Julian Nagelsmann.

Kimmichs Anspruch: Ein Platz in der Mitte des Spiels

Kimmich zeigte dabei von Beginn an, dass er mit seiner Spielintelligenz und diesem enormen Ehrgeiz gleich auf mehreren Positionen zurechtkommt. Guardiola stellte ihn notgedrungen in die Innenverteidigung und verliebte sich dort geradezu in den damals 21-Jährigen. Seinen echten Durchbruch schaffte er als Rechtsverteidiger mit zahlreichen Torbeteiligungen, die sogar Philipp Lahm in den Schatten stellten.

Am liebsten spielt er aber im zentralen Mittelfeld. Das entspricht seinem Anspruch und Naturell. In der Mitte des Spiels. Dort, wo er am meisten Verantwortung übernehmen kann. Dort, wo Spiele entschieden werden.

Kimmich war zuletzt auch das Gesicht vieler Niederlagen

Doch es hält sich bis heute die stark verbreitete Meinung, dass er dort falsch positioniert ist. In der Tat war Kimmich nicht nur an vielen Siegen und Titeln beteiligt, sondern gerade im zentralen Mittelfeld auch an großen Niederlagen, die sich zuletzt häuften. Beim FC Bayern und auch in der Nationalelf unter Ex-Coach Hansi Flick. Wenn Spiele in der Mitte entschieden werden, ist es logisch, dass sich der Blick in Phasen des Misserfolgs vor allem auf Kimmich richteten.

Thomas Tuchel gab den Zweifeln an Kimmichs Kompetenzen in der Zentrale in der vergangenen Saison erst recht Auftrieb, als er Kimmichs Eignung als Sechser infrage stellte und ihn letztlich zurück auf die Außenbahn beförderte. Die öffentliche Diskussion darüber, was denn nun ein echter Sechser ist und was nicht – an der sich neben Tuchel und Kimmich halb Fußballdeutschland beteiligte, war akademisch – und für den FC Bayern, wenn man ehrlich ist, auch etwas peinlich.

Jedenfalls fügte sich Kimmich letztlich in die Rolle als Außenverteidiger und machte dort seine Sache gut bis sehr gut – auch wenn Geschwindigkeitsdefizite gegen pfeilschnelle Außenstürmer immer wieder mal sichtbar wurden. Thema also abgehakt? Nicht so schnell.

Wenn man den FC Bayern in der Vorbereitung verfolgt hat – insbesondere das wichtige Testspiel gegen Tottenham – dann muss man zu dem Schluss kommen, dass Kimmich in der neuen Saison unter dem neuen Trainer Vincent Kompany wieder in der Mittelfeldzentrale eingeplant ist. Sportchef Max Eberl bestätigte dies zuletzt auch öffentlich.

Palhinha: Endlich ein passender Partner für Kimmich?

Für Kimmich eröffnet sich so eine große Chance. Und es wird etwas sehr Wichtiges anders sein als in den Jahren zuvor. Mit Neuzugang Joao Palhinha (29) steht zum ersten Mal ein defensiver Mittelfeldspieler im Kader, der mit seinen Stärken und Schwächen zu Kimmich passt und ein echter Anker sein kann. So wie es einst Javi Maríinez für Bastian Schweinsteiger oder später Thiago war.

Oft vergessen wurde nämlich, dass Kimmich häufig unter einer nicht optimalen Kaderzusammenstellung litt. Beim FC Bayern spielte Kimmich im zentralen Mittelfeld oft neben Leon Goretzka, der sich gern in ähnlichen Räumen aufhält wie Kimmich und auch eher den Weg nach vorne sucht.

Auch in der Nationalmannschaft war das Zusammenspiel mit Ilkay Gündogan auf der Doppelsechs bei der WM in Katar sicher kein optimaler Fit. Selbst eine Fußballlegende wie Toni Kroos funktionierte neben dem spielstarken Gündogan nur selten so gut wie zuletzt neben einem defensiven Arbeiter wie Robert Andrich. Kimmich könnte von einer ähnlichen Konstellation profitieren – wobei Palhinha ihm auch noch einiges an Arbeit im Spielaufbau abnehmen könnte.

Kimmich muss lernen auf dem Platz weniger zu machen

Taktisch, strategisch und im Passspiel bringt Kimmich alles mit, was es im zentralen Mittelfeld braucht. Im Kern muss er vor allem weniger machen. Er muss lernen, das Spiel auch mal loszulassen und auf Momente zu warten, in denen ein Tempowechsel oder ein öffnender Ball den Unterschied machen kann.

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Denn hier hatte Tuchel einen Punkt, als er Kimmich einmal als Spieler beschrieb, der immer überall auf dem Feld helfen will. So viel Wille zur Verantwortung ist löblich, aber Kimmich vernachlässigte so manchmal die defensive Ordnung oder setzte auf längere Läufe mit dem Ball zulasten von wichtigen Rhythmusveränderungen und schnellen Seitenwechseln, die Bayerns Spiel dringend braucht. Palhinha kann hier mit seiner Kopfballstärke und seinem unaufgeregten, geradlinigen Spiel vieles korrigieren und ergänzen und so vielleicht auch Kapazitäten für den Strategen Kimmich frei machen.

Auch wenn sich Vincent Kompany noch nicht abschließend in die Karten gucken lassen will und bereits angedeutet hat, dass er viel rotieren will, ist der Boden bereitet für eine ganz entscheidende Saison in der Karriere von Joshua Kimmich. Nutzt er sie, wird er endgültig zum Anführer beim FC Bayern, bei dem die Zeit der Neuers und Müllers langsam zu Ende geht. Er ist dann auch erster Kandidat für die Nachfolge von Toni Kroos in der Nationalmannschaft. Nutzt er sie nicht, dürfte seine Zeit in München im kommenden Sommer enden. Sein Vertrag läuft dann aus.

Viele Augen sind nach der verkorksten Saison 2023/2024 auf Kimmich gerichtet. Wer seinen bisherigen Weg verfolgt hat, weiß: Vor der Verantwortung weglaufen wird er definitiv nicht.

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