Jürgen Kohler spricht im exklusiven Interview mit unserer Redaktion über die anstehende Bundesliga-Saison und erwartet einen spannenden Titelkampf. Außerdem spricht der frühere Abwehrspieler über die Probleme der Schiedsrichter und des VAR.

Ein Interview

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Herr Kohler, wie sehr freuen Sie sich auf die neue Saison?

Jürgen Kohler: Die Vorfreude ist groß. Ich bin sehr gespannt.

Wie sehen Sie die Entwicklungen bei Borussia Dortmund im Sommer? Der Kader hat sich doch sehr verändert.

Es wird spannend, zu beobachten, wie die "neue Riege" auf Drucksituationen reagieren wird. Wenn du bei Dortmund tätig bist, ist der Anspruch immer, Titel zu gewinnen. Davon kann sich niemand freimachen, das ist einfach so, wenn man in einem so großen Klub spielt. Für eine Bewertung des Kaders ist es noch zu früh, das kann man erst nach zehn, zwölf Spielen richtig einschätzen.

Die fehlende Erfahrung nach den Abgängen von Mats Hummels und Niclas Füllkrug lasse ich nicht als Ausrede gelten, denn für mich gibt es nur gute oder schlechte Spieler. Maximilian Beier ist ein guter Spieler, deswegen hat ihn Dortmund geholt. Diesen Anspruch musst du als Spieler auch haben, wenn du zum BVB wechselst. Ich halte von diesen ganzen Diskussionen um fehlende Erfahrung nicht viel. Denn Erfahrung hilft auch nur manchmal, nicht immer. Am Ende entscheidet immer die Qualität.

BVB-Verteidiger Niklas Süle hat in einem bemerkenswert offenen Interview von seinen mentalen Problemen in der vergangenen Saison berichtet. Wie finden Sie diese Offenheit und seine Ankündigung, dass er weiterhin hart an sich arbeiten werde?

Ich finde es grundsätzlich gut, wenn man eine ausgeprägte Selbstreflexion hat. Denn diese kann sehr hilfreich sein. Aber das eine ist das Reden und das andere ist das Machen. Ich glaube, Niklas hat es verstanden, dass er an seiner Fitness arbeiten musste. Ich hoffe jetzt, dass er nach Rückschlägen, die immer einkalkuliert werden müssen, trotzdem seiner Linie treu bleibt und vorangeht. Dann kann er bei Dortmund schon eine tragende Rolle einnehmen.

BVB-Legende Kohler: "Drei bis fünf Mannschaften spielen um den Titel"

Wie eng wird das Meisterrennen und wie viele Teams mischen im Kampf um die Schale mit?

Meister Leverkusen ist im Großen und Ganzen zusammengeblieben. Bei ihnen wird es spannend, ob sie diese Konstanz beibehalten können. Denn Fakt ist, dass sie viele Spiele erst ganz spät für sich entscheiden konnten. Ob das so weitergeht, da bin ich mehr als gespannt. Dann gibt es auch Leipzig, die ihre Ansprüche haben, die auch mit zum Kreis der Titelkandidaten zählen müssen aufgrund der Struktur in ihrer Mannschaft sowie den finanziellen Möglichkeiten im Klub. Insgesamt glaube ich, dass es drei bis fünf Mannschaften sein werden, die um den Titel mitspielen. Aus meiner Sicht wird es definitiv enger werden als im Vorjahr und es wird auch kein Zweikampf um die Meisterschaft sein.

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Natürlich wird auch der FC Bayern wieder im Meisterkampf mitmischen und die Vorsaison vergessen machen wollen. Mit Vincent Kompany steht dort ein verhältnismäßig unerfahrener Trainer an der Seitenlinie…

Das spielt für mich keine Rolle. Bei Xabi Alonso wurde das auch im Vorfeld gesagt. Am Ende des Tages machen immer noch die Spieler den Unterschied. Je besser die Spieler sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, Titel zu gewinnen. Für den Trainer kommt es darauf an, das richtige Händchen bei der Führung der Mannschaft zu haben, zum Beispiel bei Aufstellung oder Ein- und Auswechslungen. Doch die Spieler entscheiden am Ende über den Tabellenplatz und bei Bayern München ist es einfach so, dass der zweite Platz der Verliererplatz ist.

Ich glaube, der Liga tut es gut, dass die Bayern ein Stück weit im Umbruch sind. Zwölf Jahre lang wurde die Liga dominiert mit Spielern, die am Leistungszenit waren. In den vergangenen drei Jahren deutete sich immer mehr ein Schwächeln an. Letztendlich ist der Umbruch zu spät gestartet, wobei meiner Meinung nach auch die letzten Transferperioden, mit Ausnahme von Harry Kanes Verpflichtung, nicht wirklich erfolgreich bei den Bayern waren.

Welche Rolle trauen Sie dem VfB Stuttgart zu, dem Vizemeister der Vorsaison? Und welche Hürden warten auf die Mannschaft von Trainer Sebastian Hoeneß jetzt?

Die Stuttgarter haben in der vergangenen Saison fantastisch gearbeitet, aber jetzt wird es nochmal eine größere Herausforderung werden. Die Spieler haben in der Vorsaison teilweise überperformt. Es wird spannend, ob das Leistungsniveau gehalten werden kann oder sogar gesteigert wird. Denn das braucht es, um in der Champions League weiterzukommen, wo man sich keine großen Fehler erlauben kann.

Ein zusätzlicher Faktor wird die Mehrbelastung – nicht durch die Spiele, die Spieler sind austrainiert – durch die vielen Reisen zu den Spielen. Außerdem muss die Trainingsbelastung so gesteuert werden, dass die Spieler im Spiel ihre Höchstleistung bringen und nicht im Training. Das ist die große Kunst. Ich würde es dem VfB Stuttgart gönnen, habe da aber auch leichte Zweifel, weil ich weiß, was in den Köpfen der Spieler vorgeht. Einige Spieler werden permanent im Einsatz sein, es gibt Verletzungen, Müdigkeit: All diese Faktoren werden es schwer machen für die Stuttgarter.

Welche Bundesliga-Mannschaft, außerhalb der Spitzengruppe, werden Sie genauer verfolgen?

Ich bin sehr gespannt, wie Heidenheim seinen Weg weitergehen wird, auch mit einer möglichen Doppelbelastung. Trainer Frank Schmidt und Manager Holger Sanwald machen dort wirklich eine herausragende Arbeit, schon seit vielen Jahren. Das finde ich toll zu beobachten.

"Die ganzen Auslegungen haben alles noch komplizierter gemacht."

Jürgen Kohler über den VAR

In den vergangenen Spielzeiten gab es viele Diskussionen um Schiedsrichter und deren Entscheidungen – trotz VAR. Werden diese Debatten in dieser Saison weniger werden und das Vertrauen in die Referees wieder zunehmen?

Nein, das glaube ich nicht. Durch Regelauslegungen gibt es eine Menge individuellen Spielraum für jede einzelne Person, was zu unterschiedlichen Bewertungen führt. Bei klaren Fehlentscheidungen wie beim Abseits finde ich es toll, dass es den VAR gibt. Aber manches Mal ist nicht zu 100 Prozent die Regel klar definiert und der Ermessenspielraum der Schiedsrichter führt dann zu unterschiedlichen Entscheidungen bei ähnlichen Szenen.

Die ganzen Auslegungen haben alles noch komplizierter gemacht. Oft bestimmen Menschen aus der Theorie darüber, wie die Regeln ausgelegt werden sollen. Dafür sollen ehemalige Spieler eingebunden werden. Daher wird aus meiner Sicht keine Besserung eintreten.

Was wäre denn Ihr Vorschlag für eine Verbesserung der Situation?

Ich glaube, dass der Schiedsrichter auf dem Platz die Entscheidungsgewalt haben muss. Der VAR sollte nur bei krassen Fehlentscheidungen, wie zum Beispiel grobes Foulspiel, zum Einsatz kommen. Diese sind klar definiert und ohne Ermessenspielraum. Aber diese Situationen, wo der Referee nach draußen geholt wird, für eine Szene, die er im Spiel ganz anders wahrnahm, sollten reduziert werden. Denn die Bilder können eine Situation noch einmal anders darstellen, als sie in der Realität war. Das ist entscheidend, denn nur in der Realität kann eine Szene richtig eingeschätzt werden und nicht aus 25 Blickwinkeln und zahlreichen Zeitlupen.

Über den Gesprächspartner

  • Jürgen Kohler ist Weltmeister von 1990 sowie Europameister von 1996 und zählte einst zu den besten Innenverteidigern der Welt. Mit Borussia Dortmund gewann er 1997 die Champions League. Insgesamt gewann der 58-Jährige drei deutsche Meisterschaften.
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