- Sie gehören zu den dramatischsten Minuten der Bundesliga-Geschichte: Die vier Minuten, in denen man beim FC Schalke 04 davon überzeugt war, Deutscher Meister zu sein, während der FC Bayern noch spielte.
- Ottmar Hitzfeld war damals als Trainer an der Seitenlinie dabei, als Patrik Andersson den letzten Freistoß beim HSV verwandelte und den FC Bayern so in letzter Sekunde zum Deutschen Meister 2000/01 machte.
- Im Interview mit unserer Redaktion schwelgt Hitzfeld 20 Jahre danach in Erinnerungen an eine Meisterschaft, die die Bayern wenige Tage später auch noch mit dem Gewinn der Champions League krönten.
Am 19. Mai 2001 braucht der FC Bayern ein Unentschieden, um am letzten Spieltag beim Hamburger SV Deutscher Meister zu werden. Der FC Schalke 04, der nach einer überragenden Saison gegen die SpVgg Unterhaching spielt, muss dagegen auf ein Wunder hoffen.
Während die Schalker ihr Spiel nach einem 0:2-Rückstand noch mit 5:3 gewinnen, steht es in Hamburg über 90 Minuten 0:0. Dann trifft HSV-Torjäger Sergej Barbarez per Kopfball, die Hamburger führen, Schalke wäre Meister. Doch Schiedsrichter Markus Merk pfeift das Spiel noch nicht ab. In der 93. Minute kommt es dann zur dramatischen Wende: Der FC Bayern bekommt einen indirekten Freistoß im Strafraum der Hamburger zugesprochen. Ottmar Hitzfeld sitzt damals als Trainer des FC Bayern an der Seitenlinie.
Herr
Ottmar Hitzfeld: Ja natürlich. Das war ein unglaubliches Gefühl, wenn man drei Minuten vorher noch ein Tor kassiert und fast in den letzten Minuten die Meisterschaft verspielt. Und mir ging sofort, als Barbarez das Tor schoss, durch den Kopf: "So ein Wahnsinn…" Und zwar nicht wegen der Meisterschaft, sondern weil wir in vier Tagen Champions-League-Finale hatten. Die Deutsche Meisterschaft war zwar auch gut, hatte aber im Verhältnis zum Champions-League-Finale einen anderen Stellenwert. Die Königsklasse war schon übergeordnet. Das waren die Sekunden, die ich durchlebt habe, bis es zum Freistoß kam und Patrik Andersson durch die Mauer schoss.
Wer hat eigentlich damals beschlossen, dass Andersson diesen Freistoß nimmt? War das Ihre Anweisung? Oder wie kam das zustande?
Nein, das war nicht ich. Normalerweise hätte
Das stimmt. Ich kann mich erinnern, dass auch wir vor dem Radio ganz überrascht waren, als es plötzlich hieß, Andersson läuft an…
(lacht) Absolut verständlich. Er war ja kein Spezialist. Aber Stefan Effenberg hat alles richtiggemacht.
Patrik Andersson ist wahrlich nicht als Torjäger der Bayern bekannt, und vermutlich weiß er selbst nicht einmal, wie genau er es geschafft hat, dass der Ball seinen Weg ins Tor findet. Und doch tut er es. Das Spiel endet 1:1, der FC Bayern ist Meister. Ein Saisonfinale, das an Dramatik nicht zu überbieten ist. Bei den Bayern brechen sich Emotionen Bann, wie man sie nur selten gesehen hat.
Als Bayern 2001 sein Champions-League-Trauma überwand
"Man muss bis zur letzten Sekunde überzeugt sein."
Man muss bis zur letzten Sekunde überzeugt sein. Der Glaube an den Sieg, an Erfolg ist enorm wichtig. Das hat mich immer geprägt, auch als Spieler schon. Und als Trainer erst recht. Das steckt in einem drin, und man muss negative Gedanken auf die Seite schieben.
Können Sie sich noch erinnern, wie Sie die Spieler vor dem Spiel in der Kabine eingestellt haben? Auf Unentschieden zu spielen, war ja vermutlich nicht der Plan…
Nein, nein, natürlich nicht. Man hat als Bayern-Trainer ja sowieso die Philosophie, Spiele immer gewinnen zu wollen. Es wäre viel zu gefährlich gewesen, auf 0:0 zu spielen. Die Devise war also vielmehr kontrollierte Offensive.
Die Jubelbilder nach Anderssons Tor haben sicher auch noch viele Bayern-Fans im Kopf. Sie wurden beispielsweise von Thorsten Fink umarmt und herumgewirbelt. Hatten Sie danach blaue Flecken?
Ach, ein paar Schläge ins Gesicht oder auf die Lippe gab es schon. Aber das nimmt man ja gerne in Kauf. Das waren Glücksmomente, die waren unglaublich. Es ist ja ein Unterschied, ob man in letzter Sekunde noch Deutscher Meister wird, oder ob man - wie in der ersten Saison 1998/99 - 15 Punkte Vorsprung hat. Das ist ein anderes Gefühl. Aber in der letzten Sekunde, mit dem letzten Schuss den Titel zu holen, das ist unvorstellbar.
Ein Gefühl, das die aktuelle Mannschaft des FC Bayern gar nicht kennt…
Da geht ihnen wirklich etwas verloren. Das ist richtig.
Oliver Welke hat damals in der Sendung "Ran" gescherzt, Sie hätten höchstpersönlich in allen Münchner Diskotheken Bilder der Spieler aufgehängt, um zu verhindern, dass ihre Spieler vor dem wichtigen CL-Finale die Meisterschaft schon zu intensiv feiern. Steckt ein Körnchen Wahrheit in diesem Witz?
So war es nicht, aber ich habe natürlich intensiv mit der Mannschaft und den Leistungsträgern gesprochen und klargemacht, es ist sehr schön, dass wir Meister sind – und wir hatten ja auch gleich noch ein Abendessen – aber jetzt wird nicht ausgiebig gefeiert. Denn das Champions-League-Finale steht im Vordergrund.
"Es ist Wahnsinn, was Schalke da erleben musste."
Im Moment des Jubels haben Sie vermutlich keinen Gedanken an Schalke verloren. Was ging in Ihnen vor, als sie dann irgendwann mitbekommen haben, welche Dramen sich in Gelsenkirchen abgespielt haben?
Da hatte ich schon Mitgefühl. Das ist unglaublich bitter, wenn man so nah vor dem Titelgewinn ist. Es gab ja auch noch die Fehlinformation, dass unser Spiel aus sei, die Schalker hatten bereits gejubelt. Und dann läuft unser Spiel auf der Leinwand, und alle sehen das Tor von Andersson. Ein Drama, unglaublich… Das wünscht man niemanden. Es ist Wahnsinn, was Schalke da erleben musste.
Nach dem Sieg über Unterhaching verbreitet sich im Parkstadion die vermeintlich frohe Kunde, das Spiel in Hamburg sei abgepfiffen, die Bayern hätten verloren, der FC Schalke 04 sei Deutscher Meister. Die Menschen strömen auf den Rasen, liegen sich in den Armen, können ihr Glück kaum fassen. Dann schaltet die Leinwand im Stadion nach Hamburg, und die Schalker müssen live miterleben, wie Patrick Andersson und der FC Bayern ihnen die Meisterschaft doch noch aus den Händen reißt. Rudi Assauer vergleicht die tragischen Minuten von Gelsenkirchen später mit einem Flugzeugabsturz. Sogar Huub Stevens kann seine Tränen nicht zurückhalten. Die "Meister der Herzen" sind geboren. Sie hätten gerne auf diesen Titel verzichtet.
Ist die damalige Trauer mit dem Abstieg dieses Jahr zu vergleichen? Was glauben Sie?
Nein. Ich glaube, der Abstieg ist bitterer. Es geht jetzt ja um die Existenz, man hat riesige finanzielle Sorgen. Durch den Gang in die zweite Liga verliert man vielleicht auch die besten Spieler, oder die Spieler verlieren an Marktwert. Und dann weiß man ja auch, wie schwer die zweite Liga ist …
Sie haben ja auch eigene Erfahrungen mit Menschen aus dem Ruhrgebiet – wenn auch eher schwarz-gelben. Sind solche Situationen für die Menschen dort noch einmal schwerer zu verkraften, einfach, weil Fußball den Menschen dort so viel bedeutet?
Ja, ich glaube schon, dass es dort nochmal eine andere Dimension hat als in anderen Städten. Die Leute im Ruhrgebiet verehren und lieben ihren Verein über alles. Die anderen Vereine haben auch Fans, aber im Ruhrgebiet wie z.B. bei Borussia Dortmund, da stimmt der Slogan "Wahre Liebe" wirklich. Ich habe so viele Menschen in der Umgebung von und in Dortmund kennengelernt, und die haben die Spieler wie Heilige verehrt. Es ist eine Ersatzreligion. Umso bitterer ist es dann, wenn man enttäuscht wird.
"20 Minuten Mittagsschlaf und autogenes Training, sodass ich auf schwierige Situationen vorbereitet war."
Wenige Tage nach dem dramatischen Saisonfinale in der Liga gewannen Sie mit den Bayern die Champions League gegen Valencia. Da wurde es ähnlich spannend. Wie schafft man es in solchen Situationen mit einer solch hohen Intensität klarzukommen? Haben Sie ein spezielles Anti-Stress-Regiment? Oder wurden Sie einfach mit einer hohen Resilienz geboren?
Ich war selbst Spieler und Torjäger, da muss man auch eiskalt vor dem Tor sein, darf keine Nerven zeigen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer ein Elfmeterschießen ist. Das gehört einfach zum Sport. Aber ich habe tatsächlich schon in meinem Lehramtsexamen meine Abschlussarbeit über autogenes und mentales Training geschrieben und habe auch selbst immer autogenes Training gemacht. So habe ich mich auch auf die Spiele vorbereitet. 20 Minuten Mittagsschlaf und autogenes Training, sodass ich auf schwierige Situationen einfach vorbereitet war.
Auch im Champions-League-Finale macht es der FC Bayern wieder spannend. Der FC Valencia geht bereits in der 3. Minute in Führung, Mehmet Scholl vergibt einen Elfmeter in der 7. Minute. Kurz nach der Halbzeitpause trifft Stefan Effenberg, das Spiel geht in die Verlängerung und schließlich ins Elfmeterschießen. Dort wird Oliver Kahn zum großen Helden des Abends.
Inwieweit hat das verlorene Finale 1999 die beiden Spiele, also den Meisterschaftskrimi und das CL-Finale, beeinflusst?
Ich würde sagen, das hat den Druck eher erhöht für mich, aber auch für die Mannschaft. Man will einfach nicht zweimal hintereinander so ein Finale verlieren. Somit war beim zweiten Mal der Druck größer. Aber man muss auch dankbar sein, dass wir die Chance bekommen haben, uns zu rehabilitieren.
Man hatte fast den Eindruck, Sie hätten sich von Manchester United abgeschaut, wie das geht, in letzter Sekunde noch ein Spiel zu drehen.
Aber darauf hätten wir gut verzichten können. (lacht)
Einer, der ihnen mental vielleicht noch das Wasser reichen kann, ist Oliver Kahn, der ja auch im CL-Finale den entscheidenden Elfmeter hielt. Nun ist er Vorstandsmitglied beim FC Bayern und der designierte Nachfolger von Karl-Heinz Rummenigge. Ist er für diesen Job prädestiniert?
Er bringt natürlich alle Voraussetzungen mit, beim FC Bayern in einer führenden Position zu sein. Er hat die fußballerische Kompetenz, was wichtig ist, um mitfühlen zu können und zu wissen, was im Leistungssport alles passiert kann. Er hat die Höhen und Tiefen erlebt. Und er hat ja nicht nur diese mentale Stärke und diese Einstellung, sondern hat sicher auch eine sehr gute Ausbildung, um einen Verein auch wirtschaftlich zu führen.
Haben Sie eine Lieblingspartyanekdote von der Feier nach dem Champions-League-Sieg?
Da gibt es eigentlich keine. Ich weiß nur, dass ich rundum glücklich war und den Moment festhalten wollte. Das ist unbeschreiblich. Ich bin kein Typ gewesen, der danach aus sich herauskam und groß jubelte oder herumgesprungen ist. Ich habe das innerlich genossen.
Und wer ist Ihnen von den Spielern als Partylöwe in Erinnerung geblieben?
Das waren vor allem auch die Leistungsträger im Team. Außer Oliver Kahn. Der war auch ein bisschen ruhiger.
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