Angesichts feiernder Fans im Stadion platzt einigen Beobachter*innen die Hutschnur – aber auch in einer Pandemie ist Differenzierung nicht nur erlaubt, sondern geboten.
Der Winter 2021 fühlt sich an wie der Winter 2020: Im Angesicht einer neuen Corona-Welle, der nun vierten, sind viele Menschen verunsichert. Die Politik hat es auch nach beinahe zwei Jahren nicht geschafft, Lösungen zu finden – und setzt viel zu häufig auf Eigenverantwortung.
Wie das bislang funktioniert, ist bekannt, aber darüber zu sprechen, zieht die Krakeeler*innen an, die nicht begreifen, dass ihre Freiheit da endet, wo sie die anderer beschränken. Und das tun jene, die nach wie vor ungeimpft sind, in dramatischem Ausmaß. Längst werden in einigen Bundesländern Intensivpatient*innen verlegt, weil die Stationen überlaufen.
Irgendwo müssen all diese negativen Gefühle nun also hin, und da kommen Bilder von vollen Stadien gerade recht. Branche und Anhänger*innen schlägt derzeit mal wieder eine Empörung entgegen, die nur in Teilen gerechtfertigt ist.
Sind ausgelastete Stadien im Angesicht der sich weiter verschärfenden Lage und der neuen Variante Omikron, bei der wieder eine erhöhte Ansteckung wahrscheinlich scheint, sinnvoll? Sicher nicht. Differenzierung ist bei dem Thema dennoch geboten, aber wie so häufig, wenn es um Fußball geht, fehlt diese völlig.
Dass Menschen wieder ins Stadion wollen, ist verständlich
Es ist nicht gerechtfertigt, den Fußball und seine Verantwortlichen pauschal zu verurteilen. Ja, Kritik beispielsweise an der schnellen Wiederaufnahme des sportlichen Betriebs zu Beginn der Corona-Pandemie war ebenso angebracht wie die an Einzelpersonen, die sich nicht impfen lassen und darüber hinaus mutmaßlich Öffentlichkeit und Arbeitgeber täuschen.
Natürlich hat der Fußball mit all seinen Privilegien eine Vorbildfunktion. In Sachen Stadionauslastung haben die Akteur*innen aber – ähnlich wie andere in Kultur und Gastronomie – eine lange Leidenszeit hinter sich. Dass im Verbund mit kommunalen Verantwortlichen Lösungen gesucht wurden, Menschen wieder ins Stadion lassen zu können, ist durchaus verständlich.
Der Wunsch, dass Menschen wieder zusammenkommen, gilt schließlich überall. Er wird, auch an anderen Stellen, abgewogen gegen die damit einhergehenden Risiken. Leute feiern derzeit in Clubs, sitzen in Kneipen und Kinos zusammen. All das sind Innenräume, die bekanntlich für die Ausbreitung des Virus eine sehr viel höhere Bedeutung haben. Und apropos Innenräume: Täglich pendeln Menschen in überfüllten Bussen und Bahnen zur Arbeit, da die Wirtschaft in jeder Phase der Pandemie brummen muss, arbeiten in Fabriken und anderswo Seite an Seite.
Das ist nicht als Whataboutism misszuverstehen, sondern als doppelter Denkanstoß: Derzeit muss zum einen an vielen Stellen wieder neu abgewogen und beschlossen werden, weil sich die Situation verändert hat. Zum anderen hat vielleicht die Politik, haben andere öffentliche Player, durchaus Interesse daran, die Aufmerksamkeit und Erregung immer wieder Richtung Fußball und Fans zu lenken.
Sonst könnte sie ja auf Schulen oder Arbeitsplätze und deren hohe Bedeutung fürs Pandemiegeschehen fallen. Positive Berichte über Fußballanhänger*innen, die in der Pandemie Einkaufsdienste für Risikogruppen übernahmen und Spenden sammelten, waren jedenfalls ebenso Mangelware wie Aufmerksamkeit für Impfaktionen rund um Clubs und Stadien.
Der Vorwurf, Fans seien pöbelnde, geistig unflexible Massen, ist hartnäckig, doch unwahr: Viele von ihnen bringen sich mit hoher Verantwortung gesellschaftlich ein. Stadion ist ein Stück Heimat für sie, die sie lange vermisst haben; diese Sehnsucht ist völlig okay.
Natürlich gibt es ein Aber hinter diesen Gedanken, und das betrifft eben die aktuell wieder dramatische Entwicklung, die unvermeidbarer Weise viele gesellschaftliche Bereiche erneut einschränken wird. Zur Wahrheit der Stadionbesuche gehört dabei: Viel problematischer als der Aufenthalt an der Luft, da sind sich Verantwortliche aus Politik und Wissenschaft einig, sind die An- und Abreise.
2Gplus und eine Auslastung von 25 Prozent in Stadien
Auch deswegen ist eine hohe Auslastung der Stadien angesichts der aktuellen Lage ganz klar alles andere als vernünftig. An vielen Standorten wurde darauf bereits reagiert: In Stadien galt bereits am letzten Wochenende vielfach nicht nur 2G, sondern 2Gplus, sprich, zum Status geimpft oder genesen musste ein Schnelltest vorgelegt werden. Zusätzlich wurde die Auslastung auf bis zu 25 Prozent reduziert, um Abstand halten zu können und die Zureisewege nicht zu überlasten. Hier wurde Verantwortung übernommen.
Es wäre schön, wenn das auch gesehen wird, weil diese Abwägeprozesse umso wichtiger sind, je länger die Pandemie dauert: Immer direkt alles zuzumachen, ist keine Option, weil nun mal der Mensch ein soziales Wesen ist. Ja, Schließungen können unumgänglich, dürfen aber nicht reflexhaft sein. Dabei bringt es nichts, Bereiche gegeneinander auszuspielen.
Viel wichtiger ist es, auf Expert*innen zu hören. Wenn diese also nun Alarm schlagen, gerade angesichts einer neuen Variante, der Auslastung der Kliniken sowie der nach wie vor sträflich ungeschützten Kinder und Jugendlichen, muss selbstverständlich in allen Bereichen so schnell wie möglich reagiert werden.
Das gilt dann für Fußball ebenso wie Nahverkehr oder eben die Wirtschaft, die sich gerne aus allem raushalten will. Den Frust, den wir sicher alle spüren über untätige Politiker*innen, die seit Monaten vor dem gewarnt wurden, was nun passiert, sollten wir aber nicht aneinander auslassen: An dieser Lage sind die Fußballfans ebenso wenig schuld wie es im Sommer feiernde Jugendliche waren. Ein bisschen komplizierter ist es dann halt doch.
Für die kommenden Wochen gilt wieder für sämtliche Lebensbereiche, dass die Beschränkung der Kontakte zum eigenen und dem Schutz aller notwendig ist. Und impfen, impfen, boostern. Nur so werden wir das Thema Pandemie samt aller ihrer Nebenschauplätze wieder los. Daran haben Fußballfans ebenso großes Interesse, wie der Rest der Welt. Bleiben Sie gesund.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.