Die Endgültigkeit, das Spiel der Kleinen gegen die Großen, das Archaische: Alles, was die Bundesliga in ihrem Trott vermissen lässt, finden die Fans im DFB-Pokal wieder.
Zugegeben, der SV Sandhausen kann nicht als Musterbeispiel dienen. 56 Fans hatten sich am Dienstagabend zum Baden-Derby beim SC Freiburg in den Gästeblock verirrt, 55 davon im Stehplatz- und eine unentwegte Seele sogar in den Sitzplatzbereich getraut.
Zwischen Sandhausen und Freiburg liegen 180 Kilometer, einmal die A5 runter und schon ist man da. Einen Mob konnten die Sandhäuser aber trotzdem nicht entsenden. Was einigermaßen schade war, schließlich entwickelte sich an der Dreisam das aufregendste Pokalspiel in der Geschichte des SV Sandhausen seit jenem mystischen 15:14 nach Elfmeterschießen gegen den VfB Stuttgart Mitte der 90er.
Der DFB-Pokal war schon immer ein besonderer Wettbewerb. Seine Spiele werden nicht verwässert - wie in England durch einen zweiten Pokalwettbewerb oder in Spanien, wo man in Hinspiel und Rückspiel antreten muss. Oder wie im Europapokal, mit einer vorgeschalteten Gruppenphase, die einzig und allein dazu dient, noch mehr Geld zu verdienen.
Diese eine Chance
Es gibt genau diese eine Chance, dieses eine Spiel. Danach ist Schluss oder man ist weiter. Es gibt eine Woche später keine Möglichkeit, ein 1:2 noch zu reparieren oder sich für ein 0:5 zu rehabilitieren. Ende, Aus, vorbei.
Oder aber: Bereits jetzt der neuen Ansetzung entgegenfiebern, die Wochen bis zum Spiel zählen, dann das Flutlicht anschalten und rund eine halbe Million gesicherter Einnahmen einstreichen. Der DFB-Pokal lebt von diesen Geschichten, die den Fußball auf einen einzigen Moment eindampfen, der irreversibel über Sieg oder Niederlage entscheidet.
Für 16 oder vielleicht auch 17 Bundesligisten ist die Ligapartie gegen die Bayern das Spiel des Jahres. Im Pokal bekommen diese Klubs am eigenen Leib zu spüren, was es heißt, wenn der Gegner einen bis an die Zähne bewaffnet empfängt und an diesem einen Abend das ganz Besondere schaffen will. Koste es, was es wolle.
Was tun als Favorit?
Mannschaften müssen plötzlich völlig neue Seiten an sich (wieder)entdecken. Darmstadt 98 zum Beispiel. In der Bundesliga hegt und pflegt es sein Mauer-Lilien-Dasein, ist der Underdog, das Kätzchen im Gehege der Tiger, das ab und zu mal gefährlich schnurrt und krallt. Eine Ausgeburt an defensiver Disziplin und Ordnung, weil die Mannschaft mit dem kleinsten Etat der Liga anders gar keine Chance hätte.
In der vergangenen Saison hat Darmstadt gezeigt, dass es auch so gehen kann, hat den Abstieg verhindert und dafür die etablierten Klubs aus Hannover und Stuttgart eine Etage tiefer geschickt. In der Bundesliga weiß diese Mannschaft längst, was sie zu tun hat, um ihre Überlebenschance zu wahren. Aber im Pokal? Gegen Fünft- und Viertligisten?
Da ist selbst Darmstadt der turmhohe Favorit, hat alleine schon deshalb die besseren Spieler, weil der Klub nur Vollprofis beschäftigt. Und keine Polizisten, Industriemechaniker und Studenten wie seine beiden Gegner vom Bremer SV (Oberliga Bremen) und Astoria Walldorf (Regionalliga Südwest). Darmstadt muss einen anderen Fußball spielen. Das geht mal gut wie in der ersten Runde, als es nach 25 Minuten 3:0 und am Ende ein standesgemäßer Kantersieg stand.
Aber am Mittwoch in Walldorf, als die ersten beiden Chancen nicht drin waren und dem Bundesligisten gegen die Regionalligatruppe nicht mehr einfiel, als in einem handelsüblichen Bundesligaspiel - lange Bälle in die Spitze, den zweiten Ball erobern, über Standards Torgefahr erzeugen - wurde es enger und enger. Und am Ende war Darmstadt raus aus der Bonusrunde DFB-Pokal.
Nur noch neun Bundesligisten dabei
Hier zeigt sich auch die fehlende Flexibilität deutscher Top-Klubs: Nach zwei Runden im Pokal, mit der vom Verband vorgegebenen Prämisse, dass in der ersten Runde keine Bundesligisten aufeinandertreffen können, sind nur noch neun Erstligisten im Rennen. Die andere Hälfte hat sich bereits verabschiedet und darf erst im kommenden Sommer wieder teilnehmen.
Stattdessen haben es Bielefeld, 1860 München, Hannover 96, Greuther Fürth und eben Sandhausen aus der 2. Liga geschafft, Drittligist Sportfreunde Lotte und Walldorf, die Sensationssieger aus der Regionalliga Südwest. Bis auf Hamburgs 4:0 in Halle und das überraschende 6:1 von Hannover gegen Ligakonkurrent Düsseldorf waren alle anderen 14 Partien der zweiten Runde hart umkämpft, selbst die Bayern mussten gegen Augsburg bis zur letzten Aktion des Spiels zittern, ehe der Sieg feststand.
Sechsmal gab es Verlängerung, fünfmal folgte auf die Verlängerung sogar noch ein Elfmeterschießen. Im Pokal spielen sich die Dramen ab, die der Bundesliga in ihrem gleichgeschalteten Flow abgehen. Natürlich gibt es auch im Pokal am Ende oft die üblichen Dominatoren.
Die Bayern haben sieben Mal in Folge mindestens das Halbfinale erreicht und den Pokal in der Zeit vier Mal gewonnen. Die letzte Niederlage in einer zweiten Runde gab es vor 16 Jahren, ein Erstrunden-Aus zuletzt 1994 beim legendären 0:1 gegen Vestenbergsgreuth. Borussia Dortmund steht jetzt zum sechsten Mal in Folge im Achtelfinale und zum neunten Mal in den letzten zehn Jahren.
Es werden immer auch die üblichen Verdächtigen auftauchen, je näher sich der Wettbewerb seinem Ende zuneigt. Aber auf dem Weg dorthin bedient der DFB-Pokal die Sehnsucht der Fans nach archaischen Momenten, nach Sensationen und Geschichten, die die Bundesliga nur noch vereinzelt schreibt.
Der DFB-Pokal ist die bessere Bundesliga, so einfach ist das. Anfang Februar geht es dann im Achtelfinale weiter. Und wir sollten uns jetzt schon freuen, die Sportfreunde Lotte und Astoria Walldorf wiederzusehen.
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