Manche Zuschauer wundern sich, dass die Schiedsrichter-Assistenten beim Abseits oft erst mit einiger Verzögerung die Fahne heben. Doch dieses Abwarten hat einen Grund – und der hängt mit dem Video-Assistenten zusammen.
Im Halbfinalspiel der Europameisterschaft zwischen Italien und Spanien (4:2 n. E.) läuft die 110. Minute, als Giorgio Chiellini viel Feingefühl beweist: Aus dem Mittelfeld schlägt der italienische Innenverteidiger den Ball passgenau in den spanischen Strafraum, wo sich Domenico Berardi freigelaufen hat. Der Stürmer nimmt die Kugel an und schlenzt sie am herausgeeilten Torwart Unai Simon vorbei ins Tor. Der Treffer zum 2:1?
Nein, denn jetzt – erst jetzt – hebt der deutsche Schiedsrichter-Assistent Stefan Lupp die Fahne, gefolgt von einem Pfiff des Unparteiischen Felix Brych. Berardi war im Abseits, deshalb zählt das Tor nicht. Die Entscheidung ist korrekt, doch nicht zum ersten Mal bei diesem Turnier fragen sich manche Zuschauer: Warum kam das Fahnenzeichen nicht schon früher? Weshalb hat der Assistent damit so lange gezögert?
Die Antwort hängt mit dem Video-Assistenten zusammen. Angenommen, Lupp hätte die Fahne schon gehoben und Brych daraufhin gepfiffen, bevor der Ball ins Tor ging: Dann wären für den Fall, dass sich die Abseitsentscheidung als falsch herausgestellt hätte, der Angriff und die Torchance der Italiener unwiderruflich dahin gewesen. Denn jeder Pfiff unterbricht das Spiel sofort. Daran hätte auch der VAR nichts ändern können.
Weil aber das optische Signal des Assistenten und – das ist entscheidend – in der Folge auch das akustische Signal des Referees erst erfolgten, nachdem der Ball im Tor lag, konnte der Video-Assistent aktiv werden. Denn nun hatte nicht der Pfiff das Spiel unterbrochen, sondern die Torerzielung: Dadurch, dass der Ball die Torlinie überschritten hatte, war der Ball ja automatisch aus dem Spiel.
Wann der VAR beim Abseits eingreifen kann
Das gab dem VAR die Möglichkeit zu überprüfen, ob die Entscheidung, das Tor wegen der Abseitsstellung von Berardi zu annullieren, korrekt war. Denn der Video-Assistent kontrolliert nicht nur nach einem Treffer, der vom Schiedsrichter gegeben wurde, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Sondern er prüft auch, ob ein Tor zu Recht aberkannt wurde. Das war hier der Fall.
Hätte sich dagegen herausgestellt, dass Lupp und Brych falsch lagen, dann wäre ein entsprechender Hinweis des VAR an den Unparteiischen erfolgt, der den Treffer daraufhin für gültig erklärt hätte. Umgekehrt hätte der VAR die Annullierung des Tores veranlasst, wenn das Schiedsrichterteam der Auffassung gewesen wäre, dass kein Abseits von Berardi vorlag.
Diese Gegebenheiten führen dazu, dass die Assistenten oft bewusst warten, bis sie nach einem strafbaren Abseits die Fahne heben und den Referee damit zu einem Pfiff veranlassen. Der jeweilige Angriff soll erst zu Ende gespielt werden. Mündet er in einem Tor, kann der VAR zur Überprüfung schreiten. Führt er nicht zu einem Treffer, kommen das Fahnenzeichen und der Pfiff nach dem Abschluss des Angriffs.
Manchmal geben die Assistenten es aber auch schon etwas früher: Dann nämlich, wenn in ihren Augen abzusehen ist, dass aus dem laufenden Angriff keine unmittelbare Torgefahr resultiert. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Angriff abgebrochen wird, die Angreifer aus der torgefährlichen Zone laufen – also etwa nach außen abgedrängt werden – oder das Angriffstempo verschleppt wird.
Fast immer geht es knapp zu
Prinzipiell gilt dabei zweierlei: Verzögern sollen die Assistenten das Heben der Fahne beim Abseits zum einen nur dann, wenn die Abseitsstellung knapp und damit die Gefahr gegeben ist, dass sie sich in ihrer Wahrnehmung irren könnten. Zum anderen sollen sie nur dann mit dem Signal abwarten, wenn aus ihrer Sicht ein Angriff läuft, aus dem sich rasch eine Torchance ergeben könnte.
Es liegt auf der Hand, dass diese Kriterien subjektiv und damit eine Frage des Ermessens sind: Ab wann ist ein Abseits knapp? Ab wann ist ein Angriff unmittelbar torgefährlich? Die Assistenten müssen darüber in Sekundenbruchteilen urteilen und können deshalb auch mal danebenliegen. Doch wesentlich ist die Maßgabe, dass ein Angriff nicht durch ein falsches Fahnenzeichen, dem dann ein falscher Pfiff folgt, beendet wird.
Als Zuschauer mag man manches Mal ausrufen: Aber das war doch gar nicht knapp, sondern deutlich! Warum wartet der Assistent dann trotzdem ab? Doch oft stellen sich Abseitssituationen, die im Fernsehen mit seinen Zeitlupen und Standbildern klar aussehen, für die Schiedsrichter-Assistenten auf dem Feld weniger deutlich dar. Dafür kann es verschiedene Gründe geben.
Wenn der Assistent beispielsweise nicht exakt auf der Abseitslinie postiert ist – was gerade bei schnellen oder überraschenden Angriffen passieren kann –, verschiebt sich zwangsläufig sein Blickwinkel, was seine Wahrnehmung und damit auch seine Bewertung beeinflussen kann. Befinden sich Angreifer und Verteidiger in einer gegenläufigen Bewegung, verändert sich die Situation zudem in Sekundenbruchteilen.
Wann werden die Abseitslinien eingeblendet?
Im modernen Profifußball sind die Spieler längst so gut, dass ein Angreifer nur noch selten mehrere Meter und damit wirklich sehr klar im strafbaren Abseits ist. Fast immer geht es knapp zu – und wenn man heute schon einen halben Meter als klar empfindet, sagt das vor allem etwas über veränderte Sehgewohnheiten aus. Die Tätigkeit der Assistenten ist im Laufe der Jahre immer anspruchsvoller geworden.
Man mag die verzögerte Zeichengebung beim Abseits bisweilen nervig finden – aber durch sie kommt es nur noch im Ausnahmefall dazu, dass ein vielversprechender Angriff oder gar eine klare Torchance durch einen falschen Abseitspfiff zerstört wird. Wenn die Assistenten heute erst mit Verspätung "winken“, hat das jedenfalls nichts mit Wankelmütigkeit oder mangelnder Entschlusskraft zu tun.
Bleibt noch die Frage zu klären, wann die Fernsehzuschauer die virtuellen Abseitslinien zu sehen bekommen. Prinzipiell soll das immer dann der Fall sein, wenn sich bei einem – gültigen oder annullierten – Tor die Abseitsfrage gestellt hat und es knapp zuging. Dann sollen die kalibrierten Linien des VAR eingeblendet werden, um zu zeigen, dass (k)ein Abseits vorlag.
Die Beweisbilder werden dabei aus den Räumlichkeiten des VAR an die Fernsehsender geschickt. Bei der EM ist die UEFA für die TV-Bilder zuständig und blendet die Screenshots mit den kalibrierten Linien selbst ein. In der Partie zwischen Italien und Spanien gab es sie nach dem annullierten Treffer von Domenico Berardi allerdings nicht. Das Abseits war im Fernsehen aber auch mit bloßem Auge zu erkennen.
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