- Deutschland hat das EM-Finale gegen England verloren - aber jede Menge Respekt und Anerkennung gewonnen.
- Das DFB-Team hätte den Sieg verdient gehabt, muss sich jedoch nicht ärgern.
- Es bleibt die Aussicht auf eine erfolgreiche Ära mit der besten Generation seit Jahren.
Der großartige Gary Lineker hat sehr treffend zusammengefasst, was da am Sonntagabend im Londoner Wembley-Stadion passiert und nun auch Sportgeschichte ist. "Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Frauen jagen 90 Minuten einem Ball hinterher und am Ende… gewinnt tatsächlich England."
Der Tweet der englischen Ikone kam nicht ganz überraschend, schließlich lieferte Lineker selbst mit seinem Spruch über die Unbesiegbarkeit der Deutschen die Vorlage. Und bereits im letzten Jahr, nach dem 2:0-Sieg der Männer über die deutsche Auswahl an selber Stelle, dem ersten Triumph bei einem großen Turnier nach 55 Jahren, spielte Lineker auf sein berühmtes Bonmot aus dem Jahr 1990 an.
England ist Europameister, das war die Nachricht des Abends, der Woche, des Jahres und vielleicht noch mehr. Das Land der notorischen Verlierer hat seine Sehnsucht endlich gestillt, die Verwirklichung des Traums dürfte erfüllender sein als die zahlreichen Champions-League-Siege diverser Klubmannschaften.
England oft genug mit dem nötigen Glück
Die englische Fußball-Nation hat ein Trauma besiegt - und seinen Angstgegner, bei den Männern wie bei den Frauen. Nach zwei Siegen, aber 21 Niederlagen und vier Remis gegen deutsche Frauen-Nationalmannschaften gelang nun im wichtigsten Spiel der Verbandsgeschichte ein Triumph epochalen Ausmaßes.
Ein Sieg, der aber auch ein paar Schönheitsfehler hatte. England paktierte in den K.o.-Spielen oft genug mit Fortuna, im Viertelfinale gegen Spanien und in der Vorschlussrunde gegen Schweden. Und zeigte im Finale gegen die deutsche Mannschaft in Phasen so gar nicht jenen viel zitierten und verehrten Sportsgeist, der dem englischen Fußball so gerne nachgesagt wird.
Es ging ums Gewinnen, und da sind alle Mittel recht. Das ist nachvollziehbar, auch die deutsche Mannschaft hätte sich bei einer knappen Führung in der hohen Kunst des Zeitspiels versucht, mit einer satten Portion Theatralik. Unter anderem das machte den Abend in London so enervierend für die deutsche Mannschaft.
Deutschland war die bessere Mannschaft
Die reinen Statistiken belegen ein ausgeglichenes Finale, in dem England in der ersten und Deutschland in der zweiten Halbzeit der regulären Spielzeit besser war. Aber die Deutschen spielten insgesamt den ausgewogeneren, reiferen Fußball und hatten die besseren Torchancen.
Das alles ohne Mittelstürmerin und Kapitänin Alexandra Popp. Vor ihr hatte England am meisten Respekt, allein
"Das hätte wahrscheinlich schon was ausgelöst"
"Das hätte wahrscheinlich schon was ausgelöst", sagte Bundestrainerin
Und dann deutete die Bundestrainerin an Popps Beispiel den sehr speziellen Geist ihrer Mannschaft an. Immerhin hätte Popp in einem der wichtigsten Spiele ihrer Karriere auch mit zu viel falschem Ehrgeiz für sich entscheiden können, es doch irgendwie zu versuchen - gegen den Rat der Ärzte und auf die große Gefahr hin, nach wenigen Minuten schon abzubrechen. "So eine Entscheidung von Alexandra Popp zu treffen, hat allergrößten Respekt verdient", sagte Voss-Tecklenburg. Wir haben Lea vertraut, sie hatte nicht den Rhythmus. Wir gewinnen als Mannschaft, wir verlieren als Mannschaft."
Pech mit dem VAR
Popps Ausfall war ein letzter heftiger Rückschlag, den die Mannschaft in diesem Turnier verarbeiten musste - und das tat sie mit Bravour. Auch im sechsten Turnierspiel trotzte das Team jedem Widerstand, nahm nicht nur Popps kurzfristigen Ausfall einfach so hin, sondern stellte sich gegen die bissigen Engländerinnen und über 70.000 Fans und haderte auch nicht groß mit der einen oder anderen zweifelhaften Schiedsrichterentscheidung.
Dass der VAR etwa Mitte der ersten Halbzeit nach einem recht eindeutigen Handspiel von Englands Kapitänin Leah Williamson kurz vor der Torlinie nicht einmal einschritt, wird eine merkwürdige Episode dieses Endspiels bleiben. "Handspiel!", monierte Voss-Tecklenburg. "Das muss man sehen, das versteht man gar nicht."
Es helfe nun aber nicht mehr nachzukarten. Stattdessen zeigte Voss-Tecklenburg trotz der offensichtlichen Fehlentscheidung auch hier Größe. "Da müssen sich die Leute Gedanken machen, die in der Verantwortung stehen. Wir wollen das aber nicht von einer Entscheidung abhängig machen."
Die Niederlage hat auch etwas Gutes
Deutschland hat erstmals in seiner Geschichte ein EM-Finale verloren und das auf besonders dramatische Weise. Gegen England, in Wembley. Aber aus zwei Gründen hat diese historische Niederlage auch etwas Gutes.
Die deutsche Mannschaft hat eine der jüngsten Mannschaften überhaupt ins Turnier geschickt, viele Spielerinnen der Stammformation sind noch unter 23 Jahre jung. Diese Mannschaft ist wieder hungrig genug für große Taten, das haben die Tage in England gezeigt. Und ein verlorenes Finale, zumal auf diese Art und Weise, dürfte diesen Hunger auf Erfolg noch mehr befeuern.
Und: Deutschland mag sich auf der ganz großen Bühne nicht zum Champion gekürt haben. Aber der gesamte Tross hat sich wie ein Champion benommen. Das ist manchmal viel mehr wert als ein Titel. Der deutsche Fußball weiß das nur zu gut, es gab schließlich schon einmal ein vergleichbares Szenario, das den Deutschen nicht nur den Respekt für ihre Leistung, sondern auch für ihr Verhalten in der Stunde der Niederlage einbrachte.
Das WM-Finale 1966, der Umgang mit Tofik Bachramovs Fehlentscheidung, das ikonische Bild des geknickten Uwe Seeler, die neue deutsche Demut: Das war ein Wendepunkt der deutschen Fußballgeschichte. Und vielleicht wird die Niederlage der deutschen Frauen in Wembley ja der Start in eine neue, erfolgreiche Ära. Diese Mannschaft steht erst am Anfang ihres Weges.
- "Sportschau": England gegen Deutschland - die Analyse
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