Die EM mag Geschichte und für Deutschland kein sportlicher Erfolg gewesen sein. Aus gesellschaftlicher Sicht hatte das Team um Bundestrainer Julian Nagelsmann aber einen wichtigen Einfluss. Wir haben mit einem Experten über die Auswirkungen und Gründe gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Tränen von Bundestrainer Julian Nagelsmann wirkten nach. Auch der leere Blick der Nationalspieler Toni Kroos, Thomas Müller oder Ilkay Gündogan. Gestandene Männer, die von ihren Gefühlen übermannt und geradezu umgehauen wurden. Dazu die Fans, denen die tiefe Enttäuschung ebenfalls ins Gesicht geschrieben stand.

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Bundestrainer Julian Nagelsmann
Bundestrainer Julian Nagelsmann war nach dem EM-Aus gegen Spanien untröstlich. © IMAGO/ActionPictures

Im Grunde hat die intensive Trauer über das Aus im EM-Viertelfinale eindrucksvoller als jeder Jubel unterstrichen, wie emotional Nationalmannschaft und Fans mit diesem Turnier und daher auch miteinander verbunden waren. Das DFB-Team mag sportlich zu den Verlierern gehören, gesellschaftlich ist das Land ein Gewinner. Zumindest kurzfristig.

"Das Gemeinschaftsgefühl ist auf jeden Fall gestärkt worden."

Tom Huhnke über die EM in Deutschland

"Grundsätzlich hat das Turnier einen positiven Effekt gebracht, was den Zusammenhalt angeht", sagt Tom Huhnke von der Universität Hohenheim, Fachgebiet Betriebswirtschaftslehre, Marketing & Business Development: "Das Gemeinschaftsgefühl ist auf jeden Fall gestärkt worden. Die Leute sind wieder mehr zusammengebracht worden."

Seit 2001 begleitet das Fachgebiet der Universität Welt- und Europameisterschaften der Männer mit regelmäßigen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, um unter anderem die Stimmung in der Bevölkerung auszuloten. Auch vor der diesjährigen EM wurden im Rahmen der Studie "Football’s coming home! – Die Heim-EM 2024: Was denkt die deutsche Bevölkerung?" 1.000 Menschen befragt.

Stimmung im Vorfeld: Eher pessimistisch und griesgrämig

Die Erwartungen waren eher zurückhaltend. "Nur knapp ein Viertel der Befragten hat angegeben, dass sie zuversichtlich sind, dass die Fußball-EM ein Wir-Gefühl und das Gefühl eines Zusammenhalts hervorrufen und stärken wird. Zudem hat nur knapp jeder Dritte angegeben, dass er die Spiele in der Gruppe, zum Beispiel im Rahmen von Public Viewing, anschauen möchte", so Huhnke. Im Grunde typisch deutsch – ein bisschen pessimistisch, dazu grundsätzlich negativ behaftet. Griesgrämig und ein Stück weit lustlos also, obwohl ein Großereignis ansteht.

Was übrigens kein plötzlicher Sinneswandel, sondern eine langfristige Entwicklung ist. Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts, seit dem WM-Titel 2014, sank die Vorfreude auf große Turniere sukzessive, parallel kamen vor allem in den zurückliegenden Jahren Probleme verstärkend hinzu, die dem Land gesellschaftlich zusetzten, unter anderem die Corona-Krise. "Die Einschätzungen der Menschen sind in der Tendenz ein bisschen negativer geworden, die Vorfreude ist gesunken, was sich auch auf die Heim-EM ausgewirkt hatte", verrät Huhnke.

Nicht nur das Sportliche sorgte für bessere Stimmung in der Gesellschaft

Doch irgendwann schlug die Stimmung um. Einen so geballten Hallo-Wach-Effekt wie den Sieg gegen Polen in der Gruppenphase bei der Heim-WM 2006 gab es diesmal gar nicht, es war eher ein Zusammenspiel diverser Faktoren, eine kontinuierliche Veränderung. "Natürlich spielen die guten Ergebnisse eine vordergründige Rolle, aber auch die generelle Kommunikationsstrategie rund um die EM", sagte Huhnke.

Das fing bereits bei der ungewöhnlichen Art der Nominierung an, dazu kam das ungewöhnliche pinke Trikot, das ein Erfolg war. Es wehte ein frischer Wind durch den angestaubten Verband, der plötzlich irgendwie hip wirkte. Dazu kam ein Bundestrainer, der eine spezielle Positivität ausstrahlte. "Was dann dazu geführt hat, dass sich die Leute tatsächlich wieder ein bisschen mehr mit dem Team identifiziert haben", so Huhnke.

Plötzlich konnten sich die Deutschen wieder mit dem DFB-Team identifizieren

Die Intention der Nominierung durch Nagelsmann, nicht die besten Einzelspieler, sondern die beste Mannschaft zu nominieren, übertrug sich auf die Fans, weil das Team harmonierte, nicht nur auf dem Platz, sondern auch in der Außendarstellung. Da wirkten die Nationalspieler nicht wie unnahbare Millionäre, sondern wie eine gut funktionierende Gruppe auf Klassenfahrt. Ähnlich wie 2006 oder 2014. Die Anhänger bekamen das Gefühl, dass diese Mannschaft, "auch wenn sie vielleicht fußballerisch nicht ganz mithalten kann mit Nationen wie zum Beispiel Spanien, in Sachen Leidenschaft Werte vertritt, mit denen sich viele Menschen in der Gesellschaft identifizieren können".

Und dass diese Gesellschaft in Deutschland sehr divers ist, war diesmal ebenfalls ein Erfolgsfaktor. "Selbst wenn nicht Deutschland gespielt hat, sondern Albanien, die Türkei oder Italien, haben große Gruppen an Mitbürgern mit entsprechendem Migrationshintergrund das Public Viewing gestürmt und für tolle Stimmung gesorgt", erklärt Huhnke.

Auch wenn das Wetter nicht so mitgespielt hat wie 2006, hat das Turnier dadurch eine Reihe an schönen Bildern produziert "für den Standort Deutschland, die vielleicht im Vorfeld gar nicht so zu erwarten waren", so Huhnke. Dafür haben auch die sechs Millionen Menschen in den Fanzones gesorgt, und all das wurde potenziert durch die Verbreitungswucht der sozialen Medien.

Trinkfeste Schotten und dankbare Rumänen

Und auch andere Nationen haben sich in Deutschland wohlgefühlt. Stellvertretend dafür stehen nicht nur trinkfeste Schotten oder Dänen, die Biervorräte in den Spielorten arg strapaziert haben, sondern auch die Rumänen, die in ihrer Kabine nach dem Aus im Achtelfinale einen emotionalen Brief hinterlassen hatten. "Die EURO 2024 war für uns alle eines der wichtigsten Fußballerlebnisse bisher und wir sind sehr froh, dass die Bühne, auf der sie stattfand, Deutschland war", stand dort geschrieben: "Jedes Spiel, jede Emotion, jedes Erlebnis hat uns zusammengebracht, um die Magie des Fußballs zu spüren."

Denn natürlich hat der Fußball als Volkssport Nummer eins immer noch eine integrative Wirkung. "Er repräsentiert viele Werte, die sich positiv auf die Gesellschaft auswirken. Sei es die Zusammenarbeit in der Gruppe, sei es auch die Zusammenarbeit von Personen mit unterschiedlichsten Hintergründen", so Huhnke.

"So gesehen hat der Fußball das größte Potenzial, sich positiv auf die Gesellschaft auszuwirken."

Tom Huhnke

Auch hier ist das DFB-Team ein Vorbild. "Denn mittlerweile ist auch die Nationalmannschaft eine Gruppe von Spielern, die teilweise einen Migrationshintergrund haben, aber super miteinander funktionieren und harmonieren und für wichtige Werte stehen", sagt Huhnke. Werte, die durch die Krisen der jüngeren Vergangenheit gesamtgesellschaftlich teilweise zu deutlich in den Hintergrund gerückt sind. "So gesehen hat der Fußball das größte Potenzial, sich positiv auf die Gesellschaft auszuwirken", so Huhnke.

Die Frage ist nur: Wie nachhaltig funktioniert das? "Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich der Sport im Allgemeinen und der Fußball im Speziellen ein bisschen überschätzen", sagt Huhnke. Die negative gesellschaftliche Stimmung mag durch die EM verbessert worden sein, "doch die deutsche Gesellschaft ist bei vielen Themen nach wie vor sehr gespalten und langfristige Veränderungen in der Gesellschaft sind Prozesse, die eher langsam ablaufen". Denn eine Gesellschaft wird von zahlreichen anderen, externen Faktoren beeinflusst.

Doch nach der EM ist vor der WM. 2026 findet die Weltmeisterschaft statt. Und Nagelsmann sprach nach dem EM-Aus offen über den Titelgewinn in zwei Jahren. Sollte das klappen, könnte Deutschland nicht nur sportlich zu den Gewinnern gehören, sondern erneut gesellschaftlich. Und dann vielleicht sogar langfristig.

Verwendete Quellen

Über den Gesprächspartner

  • Tom Huhnke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Betriebswirtschaftslehre, insb. Marketing & Business Development an der Universität Hohenheim und war an der Leitung der EM-Studie beteiligt.
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