Jeder Kinofan weiß: Zweite Teile von guten Filmen reichen fast nie an das Original heran. Die EM versucht trotzdem, an das gefeierte Sommermärchen von 2006 anzuschließen - bisher mit Erfolg. Die Stimmung stimmt in den meisten Fällen und auch sportlich läuft es für das DFB-Team. Wir begleiten den Kinobesuch.

Eine Satire
Diese Satire stellt die Sicht von Ludwig Horn dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die Filmtrailer sind gezeigt, die Einspieler der 18 Produktionsfirmen durch den Kinosaal gedröhnt und die letzten Besucher drängen sich noch mit mehreren Popcorn-Tüten und einer möglichst undeutlich hingemurmelten Entschuldigung an unserem Sitz vorbei. Der Film ist angelaufen!

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Wenn die Europameisterschaft ein Kinofilm wäre, dann wären wir jetzt ungefähr an dieser Stelle. Die Frage ist nur, ob der Film auch gut ist. Klar, der erste Teil aus dem Jahr 2006 war ein gefeierter Blockbuster, der längst zu den Klassikern des Genres zählt. Aber die EM 2024 ist eben doch nur die Fortsetzung des Sommermärchens, und jeder Filmkenner weiß: Der zweite Teil ist nie so gut wie das Original (und - auch hier stimmt die Analogie - ist vor allem dazu da, die Kassen des Filmstudios zu füllen).

Das "Sommermärchen 2.0", eine Gemeinschaftsproduktion der United European Film Academy (Uefa) und dem Deutschen Filmstudio Babelsberg (DFB), hat nun also begonnen. Ein oft unterschätztes Qualitätsmerkmal eines Films ist ein guter Sound - und für den sorgen in diesem Film die Fans. Wie läuft es da bisher?

Der Hauptcharakter

Die Kinobesucher haben sicher mit einigem gerechnet: Mit einem 4:2 für Deutschland im Auftaktspiel (nicht ganz, es wurde ein 5:1) vielleicht oder mit irgendeinem überraschenden Sieg einer vermeintlich kleinen Fußballnation (gab es beim 1:0 der Slowakei gegen Belgien). Aber dass die schottischen Fußballfans nicht nur viele, sondern auch liebe Leute sind, ist dann doch überraschend. Obwohl: Lustige Kostüme, kulturell gelebter Alkoholismus und ein für Außenstehende schwer zu verstehender Dialekt: Kein Wunder, dass sich die Schotten in München so heimisch gefühlt haben.

Von bis zu 200.000 Schotten soll der Ort des Eröffnungsspiels überrannt worden sein. Und das Schöne dabei: Keine Schlägereien (so wie andernorts, siehe unten). Nur Unmengen an feiernden, singenden, Dudelsack spielenden und Kilt tragenden Schotten. Der Marienplatz: dicht. Das Fan-Fest im Olympiapark: dicht. Das Hofbräuhaus: dicht. Die Schotten: dicht.

Die Bilder, die um die Welt gehen, sind rührend. Deutsche und schottische Fans stehen Arm in Arm - ohne jegliche Feindseligkeit. Als die schottische Hymne "Flower of Scotland" in der Allianz Arena erklingt und das halbe Stadion aus voller Seele mitsingt, kann man sich als Wesen mit Gefühlen einer Gänsehaut nicht erwehren.

Ein weiterer Akt von Menschlichkeit von schottischen Fans macht in den sozialen Medien die Runde: In Köln, wohin einige für das zweite Gruppenspiel gepilgert sind, regnete es in Strömen. Zwei junge Männer - natürlich im Kilt - begleiten einen älteren Herrn, der sich mithilfe eines Rollators fortbewegt, über einen Platz und halten dabei einen Schirm über ihn.

Schottische Fans begleiten deutschen älteren Herren durch den Regen

Die schottischen Fans werden im Rahmen der EM für ihre Fangesänge und Partytauglichkeit abgefeiert. Jetzt sorgten zwei Schotten aber auch für die wohl süßeste Geste rund um das Turnier.

Liebe Schotten, das ist bisher ganz großes Kino! Ich hoffe, der Drehbuchautor hat ein Herz und lässt die "Tartan Army" irgendwie in die K.o.-Phase einziehen, damit wir noch ganz viele solcher Momente sehen können.

Die Antagonisten

Die lieben Schotten brauchen aber natürlich einen bösen Nachbarn: England. Der Kontrast könnte in der frühen Phase des Films kaum größer sein. Die rücksichtsvollen und gute Laune verbreitenden Schotten auf der einen, die pöbelnden und schlägernden Engländer auf der anderen Seite. Jetzt darf man natürlich nicht alle über einen Kamm scheren - nicht alle Schotten sind toll, nicht alle Engländer pöbeln. Aber der Film ist nun mal, wie er ist.

Die Engländer reisen also zu ihrem ersten Gruppenspiel nach Gelsenkirchen. Standesgemäß ist das Spiel gegen Serbien gleich mal ein Hochrisikospiel - das einzige übrigens bei diesem Turnier. Heißt für die Fans konkret: Im Stadion gibt es "nur" leichtes Bier. In der blumigen "Innenstadt" von Gelsenkirchen kommt es dann, wie es kommen muss: ein paar einzelne tolle Menschen aus beiden Lagern gehen aufeinander los - und machen dabei auch nicht vor dem Gebrauch von Plastikstühlen halt. Sie sorgen für die ersten unschönen Bilder des Turniers.

Vor EM-Spiel: Schlägerei zwischen Fußballfans in Gelsenkirchen

Vor dem EM-Spiel zwischen England und Serbien ist es in Gelsenkirchen zu Auseinandersetzungen zwischen Fans beider Länder gekommen. Videos im Internet zeigten, wie die Anhänger sich mit Stühlen bewerfen und den Fäusten aufeinander losgehen.

Auch andernorts tauchen Videos von großen englischen Fangruppen auf, die gemeinsam singen. Was erst mal nett klingt, ist bei genauerem Hinhören plötzlich gar nicht mehr nett. In Düsseldorf und Gelsenkirchen grölten alkoholisierte Engländer den brisanten Fansong "Ten German Bombers". In dem Schlachtgesang geht es um die Royal Air Force, die nacheinander zehn deutsche Kampfflugzeuge vom Himmel abschießt. Eine Anspielung auf die Luftkämpfe im Zweiten Weltkrieg. Na wenn das nicht für Stimmung sorgt ...

Rein sportlich übrigens überzeugen die Engländer erstmal auch nicht. Zwar gibt es gegen Serbien einen knappen 1:0-Sieg, doch spielt die Mannschaft angesichts ihrer großen Anzahl an Topstars mal wieder viel zu langweilig und ungefährlich.

Der Comic Relief

Dass ein Aufeinandertreffen von Fans unterschiedlicher Nationen nicht unweigerlich zu einer Schlägerei führen muss, zeigen die Albaner und die Italiener. Vor deren Spiel in Dortmund kommt es zu einer höchstdramatischen Brutalität: vor den Augen eines italienischen Fans bricht ein albanischer Fan zahlreiche Spaghetti entzwei. Da hilft auch das Indiekniegehen des Pasta-Liebhabers nicht.

So witzig diese Aktion war, finden sich schnell Trittbrettfahrer, die diese Form der liebevollen Neckerei tot reiten. Mittlerweile wurden vermutlich 12.000 Baguettes vor den Augen französischer Fans zerbrochen. Wenn Leute nun anfangen, Bratwürste vor meinen Augen zu schänden, garantiere ich für nichts.

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Der Plot Twist

Bisher hält der Film, was er verspricht und die ganz großen Überraschungen sind bisher ausgeblieben. Eine Sache läuft aber doch gehörig anders, als erwartet. Das Wetter ist Mist! Wo ist der gute deutsche Sommer aus dem Jahr 2006? Kurze Hose, Deutschlandtrikot und Flip Flops müssen es sein - egal bei welcher Anstoßzeit. Stattdessen muss man die good old german Übergangsjacke rausholen. Im Signal Iduna Park in Dortmund fallen sogar Sturzbäche vom Hummels, äh vom Himmel. Das war so aber nicht ausgemacht!

Starker Regen in Dortmund sorgt für außergewöhnliche Bilder.
Starker Regen in Dortmund sorgt für außergewöhnliche Bilder. © IMAGO/SNA/Alexey Filippov

Der Cliffhanger

Wir sind mittlerweile ganz gut drin in der Sommermärchen-Fortsetzung und dabei gut auf unsere Kosten gekommen. Es wurde geweint, gelacht, gejubelt, der Kopf geschüttelt. Und trotzdem bleiben noch einige nagende Fragen offen: Wer übernimmt diesmal die Rolle des David Odonkor? Scheitert Deutschland wieder im Halbfinale? Ist es wieder gegen Italien, zerstöre ich die ganze Pasta auf der Welt. Wie weit kommen die Schotten? (Bitte bitte bitte sehr weit). Und schießt Thomas Müller in seiner vierten und letzten EM endlich sein erstes Tor?

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