England muss im EM-Viertelfinale gegen die Schweiz ran. Wir haben im Vorfeld des Spiels mit Dazn-Experte Sebastian Kneißl über Gareth Southgates Defizite als Trainer gesprochen und was die Schweizer aktuell besser machen als die Engländer.

Ein Interview

Am Samstag trifft die Schweiz um 18 Uhr im Viertelfinale der EM auf England. Warum ist bei den "Three Lions" die Stimmung so schlecht? Und was macht Trainer Gareth Southgate falsch?

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Mit dem Dazn-Experten Sebastian Kneißl haben wir über diese und andere Themen gesprochen.

Sebastian Kneißl (DAZN Experte)
England muss sich im Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft mit der Schweiz auseinandersetzen. Wir sprachen mit Dazn-Experte Sebastian Kneißl über verschiedene Themen rund um das Spiel. © picture alliance / BEAUTIFUL SPORTS/Wunderl/BEAUTIFUL SPORTS/Wunderl

Wie viel Spaß haben Sie an der englischen Nationalmannschaft bei dieser EM?

Sebastian Kneißl: Es kommt immer darauf an, aus welchem Gesichtspunkt man es sieht. Aber die Erwartungshaltung ist definitiv eine andere. Das sagen sie ja auch selbst. Deshalb ist die Art und Weise, wie sie Fußball spielen, tatsächlich enttäuschend. Das Einzige, das wirklich gut läuft, sind die Ergebnisse.

Können Sie das Phänomen erklären, dass ein 1,5 Milliarden Euro schwerer Kader so einen Fußball spielt?

Es gibt Sequenzen im Spiel, die die Mannschaft in der Vergangenheit gut gemacht hat. Das Pressing zum Beispiel. Viele kennen das auch aus dem Verein. Und warum kriegen sie das nicht während der EM auf den Platz? Ich sage: Die sollen das gar nicht machen. Irgendwie habe ich das Gefühl, die sollen wegbleiben. Obwohl sie es in Testspielen oder in Qualifikationsspielen immer wieder gezeigt haben, dass sie es können. Und das ist für mich eine Trainerfrage. Und es geht ja immer wieder auch darum, welche Atmosphäre kreiere ich, welche Worte benutze ich. Und Gareth Southgate ist eigentlich jemand, der das richtig gut kann. Aber ich habe das Gefühl, dass die Stimmung im Camp nicht so ist, wie sie sein sollte. Vor allem im Hinblick auf das Trainerteam.

Englands Spiel auf Sicherheit bedacht

Was macht Southgate falsch bzw. was müsste er anders machen?

Das Spiel ist sehr auf Sicherheit bedacht. Generell würde ich mir wünschen, dass eine offensivere Aufstellung auf den Platz kommt. Es ist auch sehr viel altes Material dabei, wenn man bei diesem Trendwort 'Spielermaterial' bleibt. Und gleichzeitig hat er sich natürlich auch angreifbar gemacht mit der Kader-Auswahl. Aber Cole Palmer oder Anthony Gordon sind so wichtig für diese Mannschaft, um schneller im Umschaltspiel zu sein. Und ich finde tatsächlich, dass man Phil Foden nicht über die Außenbahn laufen lassen sollte, sondern über die zentrale Position. Und ich erkenne auch keinen Plan hinter diesem Offensivspiel. Er hat individuell die besten Spieler, aber die müssen natürlich auch entsprechend ihrer Stärken eingesetzt werden.

Die Bayern-Fans erkennen Harry Kane wahrscheinlich nicht wieder und Jude Bellingham und Phil Foden kicken so, als hätten die Saisons mit Real und City nicht stattgefunden. Warum ist das auch noch im Kollektiv so schlecht? Warum stechen nicht einmal ein, zwei Spieler heraus, übernehmen Verantwortung? Warum ist das alles so lethargisch?

In der Ausprägung ist das eine Kopfsache. Und durch was entsteht Lethargie? Durch einen fehlenden Plan, durch fehlende Motivation, durch fehlende Sinnhaftigkeit. Wenn ich merke, dass der Plan, mit dem wir auf den Platz gehen, nicht funktionieren wird. Sie haben keine Muster, an denen sie sich hochziehen können. Ob nun Saka, Kane oder Foden: Die verfügen alle über ganz klare Muster im Spiel. Und diese Muster aus den einzelnen Vereinen werden nicht eingesetzt. Und dann kommst du als Spieler auf den Platz und denkst dir: 'Ich hoffe, dass das irgendwie gutgeht.' Und dann haben sie eine Handbremse im Spiel. Sie haben keinen richtigen Plan und dadurch wirken sie verhalten und lethargisch. Und das ist ein Trainerthema. Southgate hat es versäumt, den richtigen Plan und damit auch die richtige Stimmung ins Camp zu bringen.

Kriegt man das noch gedreht?

Nein, das glaube ich nicht. Für mich ist ein Trainerwechsel die einzige Möglichkeit, um das noch zu drehen. Ich glaube, dass wir einen deutlich anderen Fußball sehen würden, wenn dieselbe Mannschaft auf den Platz läuft, aber mit einem anderen Trainer. Das ist die einzige Chance, um wirklich weit zu kommen. Die Engländer haben die Haltung, dass es nur eine gute EM ist, wenn sie den Titel holen. Alles andere ist dann keine gute EM. Wenn das die Maßgabe ist, dann müsst ihr den schlechtesten Player raushauen und der schlechteste Player ist Gareth Southgate.

Trainerwechsel im Turnier?

Und wer könnte dann übernehmen?

Das wäre wenn dann wahrscheinlich eine interne Lösung, dürfte aber eher nicht passieren. Es ist einfach leblos. Und wenn es leblos ist, müssen neue Impulse her, neue Ansätze und Lösungen. Die Impulse kommen jetzt nicht mehr von Gareth Southgate. Es kann jetzt nur noch weitergehen über individuelle Qualität, wenn sie Geistesblitze haben, wie beispielsweise von Bellingham.

Dabei ist Southgates sportliche Bilanz ja gar nicht so schlecht. Wie sehr überrascht Sie die negative Stimmung rund um das Team?

Gareth Southgate hat mit seinen Äußerungen im Vorfeld eine gewisse Erwartungshaltung aufgebaut. Und die Erwartungshaltung ist: 'Wir sind die beste Liga der Welt, wir haben die besten Spieler der Welt.' Aber die Wahrheit ist: Sie waren in einer guten Position mit diesem Kader, aber nie Favorit. Da haben sie sich sehr viel schön geredet. Und jetzt merken sie, dass es andere Mannschaften gibt, wie beispielsweise zuletzt die Slowakei, die das richtig gut machen. Da passt dann die Kombination zwischen Trainer, Mannschaft, Stimmung im Camp und Matchplan nicht. Und damit meine ich auch sein In-Game-Management. Da sind andere Mannschaften auf einem ganz anderen Level.

Er weicht null von seinem Plan A ab, wirkt unflexibel. Warum ist er so verbohrt?

Das frage ich mich tatsächlich auch. Er macht sich auf jeden Fall Gedanken und er versucht, den bestmöglichen Plan auszuarbeiten. Doch wenn du jetzt auf einmal um die Ecke kommst und alles komplett auf links drehst, dann verlierst du die Mannschaft. Was ich mir wünschen würde: Dass aus der Mannschaft mehr Impulse kommen, da muss mehr Verantwortung übernommen werden.

Kann das Slowakei-Spiel jetzt eine Art Startschuss gewesen sein?

Ich mag den englischen Fußball. Ich würde es mir wünschen. Mir fehlt nur auch aufgrund von persönlichen Erfahrungen die Fantasie, wie eine Mannschaft, nachdem sie diese Leistungen in dem Turnier abgeliefert hat, sagen soll: 'So, jetzt legen wir den Schalter um.' Das sehe ich tatsächlich nicht.

Schweiz bei der EM: "Jetzt sind sie in Fahrt"

Die Schweiz spielt ein starkes Turnier. Worin sehen Sie das begründet?

Ich war am Anfang etwas skeptisch, weil es ja auch diverse Störfaktoren gab, beispielsweise mit Granit Xhaka, der Trainer Murat Yakin öffentlich kritisiert hat. Das haben sie dann ausgeräumt. Du hast insgesamt eine Mannschaft, die eine Meisterachse hat mit Yann Sommer, Manuel Akanji und Xhaka. Du hast aber auch andere Spieler, die in ihrem Verein gute Saisons gespielt haben. Und sie kommen natürlich aus einer anderen Erwartungshaltung, weshalb sie befreiter aufspielen können. Sie hatten zwar einen schwierigen Start, haben sich langsam reingearbeitet, aber jetzt sind sie in Fahrt. Es ist bei ihnen das klassische Prinzip, dass sie sich defensiv an die Kompaktheit halten und offensiv mit Plan agieren, angetrieben von Xhaka.

Wo haben die Schweizer ihre Schwächen?

Wie die meisten Mannschaften im Umkehrverhalten, also sprich gegen den Ball. Sie versuchen, ins Gegenpressing zu kommen. Jemand wie Xhaka versucht, das Ganze zu leiten, weil er das aus Leverkusen kennt. Aber wenn du sie kommen lässt, hast du im Umkehrverhalten eine gute Möglichkeit.

Murat Yakin stand auch lange in der Kritik, jetzt fliegen ihm die Herzen zu. Ist Erfolg tatsächlich dieser eine Grund für eine positive oder negative Wahrnehmung?

Was mir bei ihm gefällt, ist, dass er in einigen Tagen ohne Vertrag dasteht. Der läuft am Finaltag aus. Er hat seit Längerem einen Vertrag vorliegen und unterschreibt ihn nicht. Weil er gemerkt hat, dass er nicht diese kompromisslose Unterstützung aus dem eigenen Land bekommt, aus der eigenen Mannschaft. Er genießt das jetzt aktuell. Ich finde es gut, dass er keinen Schnellschuss aus der positiven Emotion heraus macht, sondern schaut, wie weit sie kommen, um dann am Ende alles zu analysieren. Denn klar ist: Yakin hat natürlich auch die Möglichkeit, im Nachgang vielleicht noch den einen oder anderen guten Klub zu trainieren. Er musste ein bisschen Gras fressen, musste durch eine schwierige Phase gehen, hat sich anscheinend gut herausgearbeitet mit seinem Trainerteam und darf es jetzt gerne mal genießen, dass er die Zügel in der Hand hat.

Er hört auch auf seine Spieler. Macht das einen guten Trainer aus?

Das ist, glaube ich, mittlerweile normal. Es wird zwar immer so als besonderer Punkt nach außen betont, ich kenne aber keinen Trainer, der seine Spieler nicht mehr mit einbezieht. Jeder Trainer holt sich Feedback aus der Mannschaft. Das ist nichts Besonderes mehr. Ganz im Gegenteil, denn es wäre doof, wenn du es nicht machst. Die Frage ist nur, welche Meinung du dir einholst und inwieweit du es mit einbaust, was die Spieler dir mitgeben. Es bedeutet ja auch, Mut zu haben, um das umzusetzen. Du musst als Trainer das richtige Maß finden, damit die Mannschaft das Gefühl bekommt, sie wird gehört. Yakin macht es, es wird genutzt, aber es ist nicht der Punkt, warum die Schweiz gerade so gut spielt.

Southgate macht das ja offenbar anders. Oder es kommt kein Feedback…

Ich bin mir recht sicher, dass er mit den Spielern spricht. Dann geht es entweder darum, dass er es nicht umsetzt oder die Mannschaft sagt nichts. Was mir in den Kopf kommt, ist eine Szene aus der Doku der deutschen Nationalmannschaft. Als Hansi Flick gesagt hat: 'Was hätten wir denn machen sollen?' Und Joshua Kimmich andeutet, dass sie mit der Fünferkette nicht so zurechtgekommen sind. Doch dann geht Kimmich wieder in die defensive Haltung, anstatt zu sagen: 'Wir wollen Viererkette spielen.' Soll heißen: Es ist nicht einfach, als Spieler vor der kompletten Mannschaft die Meinung zu sagen. Du willst ja nicht den Trainer kritisieren. Es kann auch sein, dass es zu deinen Lasten geht und nicht zu deinen Gunsten. Mein Eindruck ist, dass Southgate insgesamt zu viel Angst hat, etwas zu verlieren, anstatt etwas gewinnen zu wollen.

Stimmung spielt eine große Rolle

Was machen die Schweizer anders als die Engländer?

Ich finde, dass die Stimmung im Camp eine sehr große Rolle spielt. Das setzt die Basis. Wie gehe ich auf den Trainingsplatz, wie gehe ich in die Spiele hinein? Die Stimmung, wenn man das verfolgt über diverse Interviews, über Social-Media-Beiträge, ist sehr angespannt im englischen Camp und sehr locker im Schweizer Camp. Das ist gleichzeitig wiederum für mich das Zeichen, dass sich die Schweizer eine gewisse Lockerheit erarbeitet haben. Außerdem spricht der Performance Trend eindeutig für die Schweizer. Das kommt alles viel leichter und es würde auch bei der englischen Nationalmannschaft viel leichter kommen, wenn es eine andere Grundstimmung gäbe, eine andere Erwartungshaltung.

Unterschätzt man den Faktor Stimmung?

Ja! Und das ist ein Ja mit einem Ausrufezeichen. Die Stimmung muss da sein, denn du sitzt in diesem kurzen Zeitraum sehr eng aufeinander. Es geht stattdessen trotzdem sehr viel um Taktik, um Prinzipien, um Muster, weil dieses Spiel so kompliziert geworden ist. Darüber wurde quasi die Stimmung im Camp vergessen. Es bringt nichts, wenn du das schönste Hotel hast, wenn du die Stimmung nicht richtig setzt.

Auf was für ein Spiel müssen wir uns einstellen?

Es wird ein zähes Spiel, ich erwarte England mit etwas mehr Ballbesitz, doch die Schweizer werden trotzdem in den wichtigen Phasen die Kontrolle haben. Kontrolle nicht mit Ballbesitz, sondern auch gegen den Ball. Sie werden den Engländern wenig Räume geben, die passend sind, um dann gefährlich zu werden. Ich sehe die Schweizer souveräner auf dem Platz.

Sehen Sie sie auch in der Favoritenrolle?

Da müsste ich eine 50:50-Antwort geben. Da ist die mannschaftliche Geschlossenheit der Schweizer, demgegenüber steht die individuelle Qualität der Engländer. Das macht es spannend. Mein Tipp: Die Engländer fliegen jetzt schon raus und die Schweizer dann in der nächsten Runde.

Über den Gesprächspartner

  • Sebastian Kneißl wagte im Jahr 2000 mit nur 17 Jahren als vielversprechendes Talent (U19-Vize-Europameister) den Sprung von Eintracht Frankfurt zum FC Chelsea, kam dort aber nicht bei den Profis zum Einsatz. Er spielte anschließend unter anderem für Fortuna Düsseldorf und Wacker Burghausen. 2014 beendete Kneißl aufgrund einer Sportinvalidität seine Profikarriere. Seit 2016 ist er unter anderem bei Dazn als Experte tätig.
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