Bei der Heim-EM sind die deutschen Fans in Feierlaune. Kritische und politisch motivierte Fans sind nur kleine Gruppen, die kaum Beachtung finden, erklärt Fanforscher Harald Lange. Im Interview erklärt er unter anderem auch, warum Fußballverbände und auch Sportjournalisten politische Themen oft meiden.

Ein Interview

Herr Lange, wie politisch sind Großveranstaltungen wie die Heim-EM in Deutschland aus Ihrer Sicht?

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Harald Lange: Bei der WM in Katar 2022 hat die politische Ebene – zumindest in Deutschland – in der Öffentlichkeit den größten Raum eingenommen. Da war die Politik sogar wichtiger als das Spiel an sich. Man hat seitens der Fußballverbände gemerkt, dass das ein ganz schwieriges Thema für sie ist und die handelnden Akteure nur bedingt in der Lage sind, auch als politische Akteure gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

In Katar hat der DFB-Präsident eine klassische sportpolitische Bauchlandung hingelegt. Dann fand ich bezeichnend, dass Rudi Völler die Bühne betrat, dem man abnimmt, dass er die Politik hinten anstellen kann. Meine Interpretation ist, dass man sich aufgrund seiner Beliebtheit und seines Standings insbesondere in Kreisen des deutschen Sportjournalismus daran gehalten hat, dass man sich auf den Sport konzentrieren möge. Die Ursachenforschung lief zum Großteil darauf hinaus, dass man gesagt hat, die One-Love-Armbinde hätte dazu beigetragen, dass es sportlich nicht gut lief. Man merkt: Bei dieser EM wird seitens des DFB alles dafür getan, dass keine politischen und wertebezogenen Statements in die Öffentlichkeit getragen werden.

Ist das problematisch?

Dahinter steht eine gewisse Doppelmoral. Man hat in den vergangenen Jahren Abkommen mit dem ukrainischen Fußballverband getroffen, auch auf einer symbolpolitischen Ebene. Gleichzeitig haben die DFB-Vertreter in den internationalen Gremien – allen voran Bernd Neuendorf vom DFB und Hans-Joachim Watzke von der Uefa – ohne große Debatte mit "Ja" gestimmt, als es darum ging, ob russische Nachwuchsmannschaften wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen dürfen. Vor allem die skandinavischen Verbände haben Druck dagegen gemacht. Man hätte also gute Gesellschaft gehabt, um Opposition zu üben.

"Das ist die sportpolitische Hilflosigkeit, die wir gegenwärtig in der Chefetage des deutschen Fußballs erleben."

Harald Lange

Mit ihrem Banner, das gefallene ukrainische Soldaten zeigt, haben die ukrainischen Fans ein Statement gesetzt, das alle in ihrem Land berührt. Es gibt dazu kein offizielles Wort der Uefa oder des DFB, weil sie vermutlich auch auf die Abstimmung angesprochen werden würden. Das ist die sportpolitische Hilflosigkeit, die wir gegenwärtig in der Chefetage des deutschen Fußballs erleben.

Aber bei der EM gibt es ja mehrere Fangruppen, die sich politisch äußern. Das sind nicht nur Fans aus der Ukraine, auch aus Ungarn, Serbien, Albanien

Die Verantwortlichen äußern sich aber nicht, weil sie diese Themen als unbequem empfinden. Sie wollen ihre lukrativen Posten in den Verbänden behalten und eine kritische Grundhaltung – wie man sie etwa bei der norwegischen Fußballpräsidentin Lise Klaveness sieht – führt dazu, dass sie nicht gewählt werden. Stattdessen verweist man auf die Feierlaune der Fans. Denn viele wollen das Ereignis nicht mit Politik reflektieren, sondern feiern. Dieser Tage macht diese Grundstimmung es den Sportfunktionären auch einfach, sich nicht zu äußern.

"Leider haben wir bei Europameisterschaften nur selten Szenen, in denen gesellschaftspolitisch relevante Themen ausgetragen werden."

Harald Lange

Es gibt neben den sogenannten Eventfans die politisch motivierten Fans bei dieser EM, wie wir sie im ukrainischen Block gesehen haben. Wer gehört dieser Gruppe an?

Leider haben wir bei Europameisterschaften nur selten Szenen, in denen gesellschaftspolitisch relevante Themen ausgetragen werden. Man hat das zum Beispiel bei der paneuropäischen EM 2021 gesehen, als Deutschland gegen Ungarn gespielt hat. In Ungarn gibt es eine homophobe Gesetzgebung. Der Stadtrat in München hat beschlossen, die Allianz Arena in den Regenbogenfarben auszuleuchten. Die Uefa hat das verboten – da gab es eine Debatte. Die Menschen haben dann auf andere Weise Solidarität bekundet. Viele der sogenannten Eventfans setzen sich nicht politisch mit dem Turnier auseinander.

Professor Harald Lange ist Leiter der Fan- und Fußballforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Bedeutet das im Umkehrschluss, dass all die politisch motivierten Fans – wie bei der EM die Ukraine, Serbien oder Albanien – nur Randgruppen sind?

Es geht unter, weil es wenige sind. Die Gruppen sind überschaubar. Warum politische Botschaften in der Berichterstattung kaum aufgegriffen werden: Man ordnet sich unter. Wir halten Politik raus aus dem Sport. Viele machen das unbewusst, insbesondere nach der WM in Katar, als es viel um Sportpolitik ging.

Könnte dieses Weglassen von Themen Verbandsfunktionären und Sportjournalisten auf die Füße fallen?

Sportjournalisten lassen Themen liegen. Der Sportjournalismus ist in einer schwierigen Situation. Sie bekommen seit einiger Zeit mächtig Konkurrenz von den Presseabteilungen der Klubs und Verbände. Das heißt: Wenn sich Sportjournalisten mal zu kritisch äußern, laufen sie Gefahr, nicht mehr eingeladen zu werden. Kritische Töne werden beiseitegeschoben, sonst würde ihnen nachgesagt werden, die Deutschen seien wieder überkritisch. Dieses Narrativ beobachte ich seit Langem. Ein besonders augenscheinliches Beispiel war die Pressekonferenz von Julian Nagelsmann und Joshua Kimmich, nachdem der WDR eine Studie zum Thema Rassismus veröffentlicht hatte. Die Reaktionen waren sehr deutlich. Julian Nagelsmann hat das abgebügelt, das habe ich für unangemessen gehalten. Der Wunsch, die Politik rauszuhalten, ist wesentlich größer als der Wunsch, solch eine Debatte zu führen. Der Sportjournalismus hat es praktisch nicht mehr aufgegriffen.

Wie kommt das bei den Fans an?

Die kritischen Klub-Fans halten sich von der EM weitgehend fern. Das Eventpublikum kann man bespaßen, solange die Mannschaft erfolgreich spielt. Die ukrainischen Fans hingegen haben ihre Bühne genutzt, um die Welt auf ihre Situation aufmerksam zu machen und umso erstaunlicher finde ich, wie wenig Resonanz das gefunden hat.

Wohin könnte diese Entwicklung gehen?

Die EM ist für die nächsten Jahre die letzte sportliche Großveranstaltung in Deutschland. Hinzu kommt, dass der Deutsche Fußball-Bund zwar der größte Fußballverband der Welt ist, aber sportpolitisch kaum etwas zu sagen hat. Zu einer WM 2034 in Saudi-Arabien hat der DFB-Präsident eine klare Haltung. Er sagt, Saudi-Arabien ist ein normales Fußballland. Sie sind zurückhaltend, aber sie unterstützen die Bewerbung. Damit ist Saudi-Arabien 2034 eingetütet. Bis dahin wird Bernd Neuendorf als DFB-Präsident Geschichte sein, doch er wird der Nachwelt ein Problem überlassen. Der einzige Teilnehmer, der ein anderes Geschehen vorgeben könnte, wäre der Zuschauer, der sich kritisch verhält. So wie wir das in der Bundesliga erleben.

Wie sehen die kritischen Bundesliga-Fans die EM?

Sie schauen ein bisschen herab auf den Nationalmannschaftsfußball. Wenn die Mannschaft aus dem Turnier fliegt, ist die Bindung der Fans weg. Dann wäre man froh, man hätte Fans wie die Schotten, die ihr Team auch dann feiern, wenn es verliert. Davon sind wir meilenweit entfernt.

"Weshalb schaffen es Schotten, ihr Auswärtsspiel zu einem Heimspiel zu machen, während sie 1:4 hinten liegen?"

Harald Lange

Machen die kritischen Fans, die wir aus der Bundesliga kennen, nicht auch Hoffnung, da sie sich gegenüber Turnieren wie in Saudi-Arabien 2034 kritisch positionieren?

Sie stellen sich dagegen und sie finden Resonanz. Von den Fankurven in den Stadien schwappt das regelmäßig in die Mitte der Gesellschaft über. Für 2034 formiert sich das langsam. Die führenden Funktionäre verhalten sich ruhig – und das ist ernüchternd. Gleichzeitig kann ich mir nicht vorstellen, dass das System mutig genug ist, um herauszufinden, was man aus den letzten zehn Jahren Fanarbeit lernen kann.

Inwiefern?

Was lernen wir daraus, wenn wir die Schotten oder die Holländer angucken – und dann die zurückhaltenden deutschen Fans? Julian Nagelsmann hat es selbst zuletzt kritisiert, dass ihm noch zu wenig Support und Stimmung von den Fans kommt. Weshalb schaffen es Schotten, ihr Auswärtsspiel zu einem Heimspiel zu machen, während sie 1:4 hinten liegen? Der DFB wird versuchen, die positiven Dinge darzustellen.

Letztlich geht es dem DFB auch um viel Geld.

Es geht fast nur ums Geld. Man sollte sich die Frage stellen: Aus welchem Grund sollte ein gemeinnütziger Sportverband zuerst ans Geld verdienen denken? Er hat doch andere Aufgaben. Selbst das ist inzwischen zu einem Narrativ geworden: Der DFB muss Geld verdienen.

Über den Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Harald Lange leitet am Institut für Sportwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg den Bereich Fan- und Fußballforschung.
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