Die Personalpolitik des Bundestrainers wirft Fragen auf. Einigen Nationalspielern gibt er eine Stammplatz-Garantie, andere lässt er im Ungewissen - sogar seinen Kapitän İlkay Gündoğan. Dahinter steckt Kalkül.

Pit Gottschalk
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Pit Gottschalk dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Bei Manuel Neuer ließ der Bundestrainer keinen Raum für Zweifel: Er spielt! Da kann der 119-malige Nationaltorwart und Weltmeister von 2014 noch so viele Patzer produzieren: Er spielt! Julian Nagelsmann holte sich sogar die öffentliche Unterstützung seines Sportdirektors Rudi Völler, damit auch jedem Fan und Journalisten klar wird: Er spielt! Debatte beendet.

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Kein Machtwort für Gündoğan

Man fragt sich nur: Warum spricht Nagelsmann bei den anderen Wackelkandidaten kein Machtwort? Er könnte zum Beispiel über seinen Kapitän İlkay Gündoğan sagen, dass der Platz hinter Mittelstürmer Kai Havertz für ihn reserviert ist. Und dass auch ein schlechtes EM-Eröffnungsspiel am Freitag gegen Schottland nichts an der Vormachtstellung ändern würde.

Ja, er lobt Gündoğan. Einen Freifahrtschein stellt Nagelsmann ihm aber nicht aus. Ebenso wenig Robert Andrich im defensiven Mittelfeld neben Toni Kroos. Oder Maximilian Mittelstädt links in der Abwehrkette. So bleiben Leroy Sané, Pascal Groß und David Raum EM-Spieler in Spe. Gut für den Leistungsdruck. Schlecht für das Sicherheitsgefühl in der Start-Elf am Freitag.

Die erste Klasse

So bildet sich im Verlauf der EM-Vorrunde unübersehbar eine Drei-Klassen-Gesellschaft in der deutschen Nationalmannschaft heraus. Erste Klasse: Dazu gehören Spieler, an denen Nagelsmann keine Sekunde zweifelt. Manuel Neuer im Tor. Antonio Rüdiger und Jonathan Tah in der Innenverteidigung. Joshua Kimmich rechts in der Abwehrkette. Toni Kroos im Mittelfeld.

Man kann auch davon ausgehen, dass Florian Wirtz und Jamal Musiala in der Offensive gesetzt sind. Nagelsmann hat öffentlich keine substanzielle Kritik geäußert, als die zwei Jungstars zuletzt großen Murks gekickt haben. Ihnen gehöre die Zukunft, das hat Toni Kroos auf der DFB-Pressekonferenz am Dienstag abermals betont. Bei Nagelsmann beginnt die Zukunft jetzt.

Im Sturmzentrum ist die Rollenverteilung festgelegt: Kai Havertz fängt an, Niclas Füllkrug wartet auf seinen Einsatz. Konkret bedeutet das: Havertz soll als "Spielender Neuner" Löcher in die Abwehr des Gegners reißen und die Verteidiger mürbe rennen, Füllkrug irgendwann reinkommen und notfalls als "Klassischer Neuner" die Bälle ins Netz hauen.

Heim-EM: Nagelsmanns Wackelkandidaten und ihre Alternativen

Mittelstädt oder Raum, Sane oder Gündogan - wer schafft es in die DFB-Startelf? Die letzten Turniertests gegen die Ukraine und Griechenland haben bei mehreren Personalien Fragen aufgeworfen.

Die Zweite Klasse

Füllkrug gehört damit zur zweiten Klasse in der Drei-Klassen-Gesellschaft. Er weiß, dass er spielt, aber halt nicht von Anfang. So wie die genannten Sané, Groß und Raum. Nagelsmann hat betont, dass seine Elf aus 13, 14 Feldspielern besteht - aus den zehn, die anfangen, und den paar, die nachrücken. Alle anderen im 26-Mann-Kader müssen ein bisschen mehr Sitzfleisch mitbringen.

Chris Führich zum Beispiel, der Wirbelwind vom VfB Stuttgart, übernimmt die Rolle, die André Schürrle so vortrefflich bei der WM 2014 gespielt hat. Er kam damals mit dem Spezialauftrag ins Spiel, die Dinge zu wenden, wenn alles festgefahren schien. Wie im WM-Finale gegen Argentinien, als er links durchbrach und Mario Götze den Ball zum 1:0-Siegtor auflegte.

Die Dritte Klasse

Von dieser Spielersorte gibt’s einige im EM-Kader, dritte Klasse eben. Beispielsweise Nico Schlotterbeck und Waldemar Anton in der Abwehr. Oder Benjamin Henrichs für die Außenpositionen. Oder Deniz Undav im Sturm. Man sollte ihre Bedeutung nicht kleinreden. Die Turniergeschichte der Nationalmannschaft erzählt wunderbare Geschichten über diesen Typus.

Die berühmteste ist wohl die von Horst Hrubesch, 1980. Er kam im ersten Gruppenspiel gegen die Tschechoslowakei (1:0) nicht mal zum Einsatz, als Klaus Fischer wegen eines Beinbruchs fehlte. Karl-Heinz Rummenigge und Klaus Allofs bildeten das Stürmerpaar. Als er dann spielte, traf er nicht - bis zum EM-Finale. Torschütze beim 2:1 gegen Belgien war - zweimal Hrubesch.

Über den Autor

  • Pit Gottschalk ist Journalist, Buchautor und Chefredakteur von SPORT1. Seinen kostenlosen Fußball-Newsletter Fever Pit'ch erhalten Sie hier.
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