- Am Freitag beginnt mit einem Jahr Verspätung die EM - und unser Experte Olaf Thon wird die Europameisterschaft gemeinsam mit unserer Redaktion begleiten.
- Was die deutsche Nationalmannschaft angeht, ist Thon vorsichtig optimistisch - auch wenn die DFB-Elf für ihn "krasser Außenseiter" ist.
- Dennoch glaubt Thon, dass Jogi Löw für dieses letzte Turnier noch einmal der richtige Trainer ist und hat das Gefühl, dass die Mannschaft tatsächlich schon zusammengewachsen ist.
Olaf Thon, viele Menschen tun sich noch schwer damit, so richtig in EM-Stimmung zu kommen, schließlich gibt es keine Fanfeste, kein Public Viewing. Wie sieht es bei Ihnen aus?
So richtig Euphorie wird in Deutschland wohl erst aufkommen, wenn die deutsche Nationalmannschaft auf dem Platz überzeugt.
Ja, und wenn es spannend wird. Wir haben eine sehr schwere Gruppe, obwohl ja immerhin auch die besten Dritten weiterkommen. Aber dann geht es vermutlich auch gegen ein absolutes Top-Team. Am besten wird man einfach Erster und spielt gegen einen Dritten. Aber in unserer Gruppe wird das wahnsinnig schwierig sein, und ich bin schon einmal froh, wenn wir überhaupt weiterkommen.
Thon: "Da wächst wieder etwas zusammen"
Wie schätzen Sie die momentane Verfassung des DFB-Teams ein?
Ein großes Verdienst, das sich
Absolut! Und wir bei Schalke haben ihn ausgebildet!
Ist das vielleicht auch der entscheidende Unterschied zu 2018, dass es jetzt einfach ruhiger ist, kein Skandal oder Diskussionen wie damals die Sache mit Özil und Erdogan die Mannschaft beschäftigen?
Ja, das kann sein. Solche Dinge können ein Team tief beeinflussen. Eine ähnliche Situation hatten wir 1998 mit vielen Verletzten. Man wurde kein Team. Aber gerade spürt man, da ist etwas vorhanden. Trotzdem muss man sehr vorsichtig sein, weil die deutsche Gruppe einfach sehr stark ist und auch Außenseiter Ungarn mit einigen Bundesligaspielern nicht zu unterschätzen ist. Die sind nicht umsonst dabei. Ich glaube, eine Europameisterschaft zu gewinnen ist schwieriger als eine WM zu gewinnen.
Das sind Thons EM-Favoriten
Tatsächlich kann man ziemlich viele Nationen als Favoriten bezeichnen.
Ich habe sechs identifiziert. Frankreich und Spanien sind für mich vorne. Dann Belgien, England, Italien und Deutschland.
Glauben Sie nicht, dass Spanien durch den Coronafall von Kapitän Sergio Busquets einen Nachteil hat?
Der Verlust des Kapitäns ist nicht so schlimm. Das kann auch ein anderer machen. Und das kann eine Mannschaft auch zusammenschweißen. Ich sehe das nicht als Nachteil.
Ist dieses Damoklesschwert "Corona" etwas, das in den Köpfen der Spieler eine Rolle spielt?
Ich glaube, die haben das in den vergangenen Monaten durch den Spielbetrieb in der Bundesliga schon verarbeitet. Aber es ist natürlich in den Köpfen verankert, und man sieht ja auch, dass man weiterhin vorsichtig sein muss, was Corona betrifft. Ich hoffe einfach, dass die EM vernünftig starten kann und auch in den Stadien alles rund läuft. Wir haben viele Unbekannte, die da auf uns zukommen, aber das macht es ja auch spannend.
Nach dem Dänemark-Spiel sollen ja viele Spieler nicht besonders überzeugt gewesen sein von Jogi Löws Dreierkette-Taktik, sie wollen lieber Viererkette spielen. Mal vom Taktischen abgesehen – gegen Lettland hat die Dreierkette ja sehr gut funktioniert -, müssen wir uns darauf einstellen, dass im Verlauf des Turniers Löws Entscheidungen noch häufiger von den Spielern hinterfragt werden? Oder anders gefragt: Ist Löw eine "lame duck"?
Gute Frage. Ich hoffe, es kommt nicht so weit, denn wenn es dazu kommt, dann heißt das, das wir das erste Spiel verloren haben. Denn sonst kommt ja keine Unruhe auf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das System infrage gestellt wird, wenn wir gegen Frankreich gewinnen. Es darf sowieso nicht infrage gestellt werden, denn wir haben ja gar keine Zeit, umzustellen. Nach der Vorrunde geht es direkt weiter mit Hammerspielen. Und ich finde, das System ist mit der Dreierkette gut angepasst. Aber das ist nur ein Puzzleteil. Man muss einfach positiv denken: Es sieht gut aus, und das kann funktionieren.
Eine Personalentscheidung, die Löw vielleicht noch Kopfzerbrechen bereitet, ist Havertz oder Sané.
Ich glaube nicht, dass Sané in der Startformation sein wird. Er bietet sich eher an, wenn man dann nochmal nachlegen muss, vor allen Dingen im Konterspiel. Gnabry vorne drin mit Müller im Wechselspiel und Havertz dahinter, scheint mir die wahrscheinlichste Aufstellung. Sané und Werner passen aber ganz gut, vor allem, was die Schnelligkeit betrifft. Da sind wir exzellent aufgestellt. Was mir allerdings fehlt, ist ein exzellenter Kopfballspieler. Da haben wir Defizite. Wobei Thomas Müller sehr stark ist im Kopfballspiel, die anderen sind jedoch eher Durchschnitt. Aber man kann ja durchaus Hummels oder Rüdiger bei Standards vorne reinschicken.
"Werner hat sich schneller entwickelt als Sané"
Nochmal kurz zu Sané: Er kassierte beim Spiel gegen Dänemark einen ordentlichen Anschiss von Kimmich. Fanden Sie das berechtigt?
Absolut. Wenn es Unzulänglichkeiten gibt, dann sollten Führungsspieler das jungen Spielern auch sagen können und dürfen. Das finde ich eine positive Sache. Sané ist noch nicht gefestigt, er entwickelt sich. Er ist ein besonderer Spielertyp, mit dem man auch sehr klug umgehen muss. Werner hat sich in England schneller entwickelt als Sané in München. Vielleicht ist es auch schwerer in München, aber vom Typ her hätte ich es Werner nicht zugetraut, dass er so eine Entwicklung nimmt. Er ist gereift. Und das steht bei Sané noch an.
Welcher deutsche Spieler könnte denn die prägende Person des Turniers werden?
Das kann Manuel Neuer sein, der wohl viel beschäftigt werden wird.
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Wie Kahn 2002 …
Ja, genau. Aber auch wie Neuer 2014. Er hat damals schon tolle Paraden hingelegt. Der Kopf des Spiels, auch wenn er rechts spielen sollte, kann Kimmich werden. Zudem Hummels in der Abwehrzentrale und vorne Thomas Müller als Garant für Einsatzwillen und Führung, das sind für mich die Schlüsselspieler der deutschen Achse.
Hat es Sie eigentlich gewundert, dass Hummels und Müller sofort wieder bereitwillig zugesagt haben, zurück zur Nationalmannschaft zu kommen?
Ein bisschen schon. Ich glaube, wir alle haben den Bundestrainer und auch die beiden Spieler dahingehend unterschätzt. Löw und auch Bierhoff scheinen das schon gut gemanagt haben. Das war auch wichtig, denn wenn schon im Vorfeld einer der beiden gesagt hätte, 'Nein, das geht nicht. Ich bin sauer, wie das gelaufen ist!', dann hätte das vermutlich nicht funktioniert. Ich war positiv überrascht. Da muss man Jogi Löw loben, dass er offensichtlich ein gutes Händchen hat, auch solche sensiblen Sachen durchzuziehen.
"Löw hat Pluspunkte gesammelt"
Löw hat vor einigen Tagen der "Zeit" ein großes und sehr persönliches Interview gegeben, in dem er unter anderem über seine eigene Kinderlosigkeit spricht und allgemein sehr tief blicken lässt. Stärkt das seine Position in Ihren Augen? Oder kann es bei einem Bundestrainer auch so etwas wie zu viel Offenheit geben?
Ich glaube, dadurch, dass er aufhört und zu diesem Schritt ja auch irgendwie gezwungen wurde, finde ich es sehr gut - wenn er es möchte -, dass er auch über persönliche Themen spricht. Das finde ich am Ende einer Zusammenarbeit sehr schön, vor allen Dingen für die Öffentlichkeit, die da sicherlich sehr interessiert zugehört hat. Für mich ist das weniger interessant. Für mich geht es in erster Linie um den Fußball, ich möchte gar keinen so tiefen Einblick in die Person. Viele Leute möchten das aber, und ich denke, er hat damit Pluspunkte bei den Fans und in der Öffentlichkeit gesammelt.
Das Thema psychische Gesundheit kommt auch im Fußball immer häufiger auf. Kann die Offenheit eines Bundestrainers dazu beitragen, dass sich auch Fußballer trauen, mehr über derartige Problematiken zu sprechen?
Ich glaube, in erster Linie ist der Fußballer dazu da, um Fußball zu spielen. Alle Spieler tun meiner Meinung nach gut daran, sich auf den Fußball zu konzentrieren und dann, wenn sie mit Taten gesprochen haben, können sie auch aus dem Nähkästchen plaudern. In dieser Reihenfolge.
Das ist heutzutage aber gar nicht mehr so leicht, sich komplett auf den Fußball zu konzentrieren. Durch die sozialen Medien bekommen viele Fußballer und Fußballerinnen oft ungefilterten Hass entgegengeschleudert, wenn es mal nicht so läuft. Auf dem Platz hingegen scheint der Umgang respektvoller geworden zu sein. Oder glauben Sie, dass sich einer den Hintern mit dem Deutschland-Trikot abwischt, würde heute noch vorkommen?
Ach, das kann vielleicht schon nochmal vorkommen. Ich glaube, dass sich der Umgang der Spieler untereinander durch Corona noch einmal verändert hat. Man ist auch – so ist meine Wahrnehmung – respektvoller mit dem Schiedsrichter umgegangen, hat weniger Show gemacht, hat sich weniger fallen gelassen, es gab weniger Schwalben. Wir werden vielleicht während dieser EM nochmal eine neue Art von Umgang untereinander spüren bei diesen Spielen, weil es so gemischt ist, mal sind mehr Zuschauer dabei, mal weniger. Das ist wieder neu für alle, birgt viel Spannung und weckt auch Sehnsucht auf das erste Spiel zwischen Türkei und Italien. Ich glaube, da werde ich auch mal den Fernseher ein bisschen lauter drehen – außer, der Reporter erzählt Mist.
Kein fehlender Rückhalt für Löw
Ist es eigentlich ein Vorteil, dass alle wissen, dass die EM Jogi Löws letztes Turnier ist, oder ist es ein Nachteil?
Er geht damit sehr offen um, hat die Zügel in der Hand. Ich spüre bei keinem Spieler oder auch im Umfeld fehlenden Rückhalt für Löw. Das lässt sich sogar auf die Spieler ausweiten, die nicht in den Kader berufen wurden wie Julian Draxler. Das Nachtreten hielt sich in ganz engen Grenzen. Das war früher ganz anders. Das spricht für mich für gutes Management, eine gute Vorbereitung, keine heiße Luft. Ich fand das 7:1 gegen Lettland überzeugend, auch, wenn es natürlich ein schwächerer Gegner war. Aber ich glaube, wir sind auf dem besten Weg, uns in dieses Turnier – wie man so schön sagt – reinzukämpfen. Wir haben die Spielertypen dazu und die Qualität, und jetzt muss auf dem Platz die Leistung gebracht werden. Und Jogi Löw ist dafür noch einmal der Richtige. Und hoffentlich dann auch erfolgreich.
Stefan Kuntz hat es mit der U21 gerade vorgemacht und mit einer Mannschaft, die nicht zu den Favoriten des Turniers zählte, den EM-Titel geholt.
Ich hätte Ridle Baku oder auch Florian Wirtz gerne in unserem A-Kader gesehen. Damit könnte man auch ein Zeichen setzen, falls sich jemand verletzen sollte oder Goretzka doch nicht fit wird, solche jungen Spieler nachzunominieren.
Parallelen zur EM 1996?
Deutschland ist zum letzten Mal 1996 Europameister geworden. Auch 1994 war die WM in die Hose gegangen und Qualifikations- und Testspiele nicht zwingend überzeugend absolviert worden. Kann man damals mit heute vergleichen?
Schwer zu sagen. Wir hatten immer mal Tiefs, das gehört einfach dazu. Man kann nicht immer erfolgreich sein. Und damals wie heute haben wir dann mehr auf die Jugend gesetzt. Die U21 ist nicht umsonst Europameister geworden. Da wurde in den letzten Jahren auch viel investiert in die Nachwuchsleistungszentren, um wieder junge Talente zu fördern. Das haben wir zwar geschafft, aber vielleicht sind wir jetzt noch nicht so weit. Vielleicht brauchen wir die nächste WM, um dann wieder ganz erfolgreich zu sein. Im Moment sind wir noch krasser Außenseiter, aber es könnte so kommen wie 1996, wo wir uns alles erkämpft haben. Mit Typen wie Helmer, Sammer, Freund oder Bierhoff. Das kann passieren, das wäre schön. Aber ich glaube, es wird wahnsinnig schwer.
Dann sind wir ja bestens für schöne Stunden vor dem Fernseher gewappnet. Haben Sie eigentlich einen Lieblings-TV-Experten oder eine Expertin?
Nein, da gibt es niemanden. Ich weiß auch gar nicht so recht, wer wann eigentlich kommentiert oder als Experte tätig ist. Das sind inzwischen so viele. Aber bei Frauen bin ich immer sehr gespannt, wie sie das umsetzen. Ich finde, Frauen bringen die Würze, die richtige Mischung in diesen Männersport und gehören einfach dazu. Sicherlich als Ausnahme, denn es ist ein Männersport (Interviewerin räuspert sich hörbar an dieser Stelle), aber ob als Schiedsrichterin, Linienrichterin, Reporterin oder Kommentatorin – sie gehören dazu.
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