War es ein zweites Sommermärchen? Ein Sommermärchenchen? Oder ein Traum, der durch ein Handspiel zum Albtraum wurde? RTL hat die Heim-EM 2024 in Deutschland mit einem Kamerateam begleitet. Herausgekommen ist eine Hochglanz-Doku, die dennoch intime Einblicke in eine Mannschaft und ein Land liefert. Und zeigt, dass man auch die Wut über einen nicht gegebenen Elfmeter überwinden kann, wenn man die Perspektive ändert.

Christian Vock
Eine Kritik
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Der Abend des 5. Juli 2024, ein Freitag, ist vielen Menschen noch in Erinnerung und treibt einigen von ihnen noch immer Tränen der Wut in die Augen. Zumindest denen, die es mit der deutschen Nationalmannschaft halten – und mit der Gerechtigkeit.

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Es läuft die 106. Minute im Viertelfinalspiel der Fußballeuropameisterschaft. Es steht 1:1 zwischen Deutschland und Spanien, als Jamal Musiala kurz vor der gegnerischen Strafraumgrenze den Ball bekommt und ihn aufs Tor schießt. Doch dort sollte der Ball nie ankommen, der Arm eines spanischen Spielers blockiert den vorgesehenen Weg.

Auch wenn seine korrekte Aussprache viele noch immer vor Probleme stellt: Der Name Marc Cucurella ist seit dieser tragischen 106. Minute jedem Fan der deutschen Nationalmannschaft ein Begriff. Dass das so ist, liegt wiederum an einem dritten Beteiligten: Anthony Taylor. Denn statt in seine Pfeife zu blasen und einen Elfmeter zu verhängen, ließ Schiedsrichter Taylor weiterspielen. Das Ergebnis ist bekannt, Spanien gewann das Spiel gegen Deutschland und wurde später Europameister.

Die Szene, den ausbleibenden Pfiff und das darauffolgende Ausscheiden als ärgerlich zu bezeichnen, wäre ein wenig untertrieben und so dürfte dieses Handspiel tatsächlich auch heute noch den meisten Menschen als Erstes in den Kopf kommen, wenn man sie nach der EM in Deutschland befragt. Allerdings stehen die Chancen gut, dass sich das am 11. Januar 2025 ändern wird. Dann zeigt RTL nämlich um 20:15 Uhr die Dokumentation "Unser Team – Die Heim-EM 2024" und damit Momente, die eben auch zur Europameisterschaft gehören und die mancher wegen des tragischen Ausscheidens vielleicht vergessen hat.

"Geile Scheiße!"

Deniz Undav, Nationalspieler

Zum Beispiel die Szenen vom Achtelfinalspiel gegen Dänemark, als Deutschland im Gewitterregen von Dortmund wieder im Mittelpunkt einer umstrittenen Elfmeter-Entscheidung steht – diesmal aber davon profitiert. Oder das Eröffnungsspiel. Da ringt Deutschland Schottland zum Auftakt klar mit 5:1 nieder und Antonio Rüdiger erzielt eines der schönsten Eigentore der Europameisterschaft. Und da ist natürlich noch das Spiel gegen die Schweiz, bei dem Niclas Füllkrug mit seinem Ausgleich in der Nachspielzeit nicht nur den Gruppensieg sichert, sondern damit auch die Möglichkeit, dass es überhaupt zum Spiel gegen Spanien kommen sollte.

Doch all das hat man gesehen, im Stadion oder im Fernsehen und so ist, wie bei jeder Dokumentation, auch hier spannender, was man nicht gesehen hat. Wie etwa den Moment, in dem DFB-Neuling Deniz Undav zum ersten Mal sein Appartement im Mannschaftsquartier betritt und dort sein Trikot mit der Nummer 26 hängen sieht. "Geile Scheiße", entfährt es Undav ergriffen und wenig später ergeht es seinem Mannschaftskollegen Pascal Groß, dem Spätberufenen, ganz genauso. "Unfassbar", kommentiert Groß die Szene.

Der Film von Tom Häussler ist voll von solchen Einblicken hinter die Kulissen. Der Besuch von Bundespräsident Steinmeier im Trainingslager im Hotel Weimarer Land, das Teambuilding mit zwei SEK-Einheiten der Polizei oder der Moment, als Teile der Mannschaft einen Hund aus dem Tierheim ins Mannschaftsquartier holen wollen. Antonio Rüdiger trägt die Idee mit, hat aber Angst vor Hunden, während Robert Andrich schon einmal zu Hause klärt, dass er von der EM mit einem Hund zurückkehrt, sollte ihn sonst niemand haben wollen. Am Ende wird es aber kein Hund, sondern ein Kanarienvogel namens Ringo.

Nicht die Umfrage ist das Problem, sondern das Ergebnis

Tom Häussler hat sich dabei, wie im ganzen Film, dafür entschieden, auf einen Off-Sprecher und zusätzliche Erklärungen zu verzichten. Stattdessen hört und sieht man nur die Sportler, Zuschauer, Fans und andere Protagonisten. Das macht die Dokumentation maximal direkt und ungefiltert – gibt dem Zuschauer aber auch keine Einordnung des Gesagten. Das wäre aber mindestens an der Stelle gut gewesen, als es um die Umfrage geht, die der Westdeutsche Rundfunk (WDR) seinerzeit für die Fernsehdokumentation "Einigkeit und Recht und Vielfalt" in Auftrag gegeben hatte und die für Wirbel auch in der Nationalmannschaft sorgte.

Zur Erinnerung: Die Frage, ob man sich wieder mehr weiße Spieler in der deutschen Nationalmannschaft wünsche, bejahte damals jeder Fünfte in der Umfrage. In der Dokumentation sagt dazu etwa Joshua Kimmich, es sei "absurd, so eine Frage zu stellen, wo es doch darum gehe, das Land zu vereinen". Und Bundestrainer Julian Nagelsmann hoffe, "nie wieder irgendwas von so Scheiß-Umfragen lesen zu müssen." Als sei die Umfrage das Problem und nicht die rassistischen Antworten.

Da hätte man sich ein bisschen mehr Einordnung von Dritten, zum Beispiel von einem Rassismus-Forscher gewünscht, so aber dient die Umfragen-Episode nur als Beispiel für ein externes Störfeuer, das Nagelsmann von der Mannschaft fernhalten will. Was das Ergebnis dieser Umfrage aber über den Rechtsruck der Gesellschaft aussagt und wie sich Spieler wie Antonio Rüdiger oder Jonathan Tah dabei fühlen, darauf geht die Dokumentation nicht ein. Stattdessen ist der Film bemüht, ein anderes Bild von Deutschland zu zeigen.

"Kickt einfach!"

Julian Nagelsmann, Bundestrainer

Denn bereits im Vorfeld wurde allzu oft die Frage gestellt, ob die EM 2024 vielleicht ein ebenso unbeschwertes, friedvolles und weltoffenes Deutschland wird zeigen können, wie 2006 die Fußballweltmeisterschaft. Die Antwort, die die Dokumentation gibt, lautet: ja. Man ist dafür quer durchs Land gereist, hat Menschen beim Mitfiebern mit der Nationalmannschaft gefilmt: im Frauengefängnis, im Krankenhaus, in der Elbphilharmonie, bei der Bundeswehr oder beim Fan-Marsch.

Und ja, da entsteht wieder das Bild eines anderen Deutschlands. Eines, in dem es auch einen friedlichen und respektvollen Patriotismus geben kann. Nicht diesen rechtsbraunen Patriotismus, sondern einen, der andere ein- und nicht ausschließt. Dass nur knapp zwei Monate später zwei Drittel der Menschen in Sachsen und Thüringen Rechtsextreme in die Landesparlamente gewählt haben werden, weiß da ja noch niemand.

Stattdessen gibt es in der Dokumentation die reine Harmonie. "Kickt einfach! Macht das, was euch Spaß macht!", fordert Nagelsmann sein Team nach der Umfrage auf und erklärt: "Die ganze Scheiße übernehme ich. Weil ihr seid mein Kader!" Und genau das hat dieser Kader dann ja auch gemacht und so nimmt der Film den Zuschauer nicht nur mit auf eine Reise durchs Land, sondern auch durch die Geschichte eines Teams. Von den miserablen Vorbereitungsspielen gegen die Türkei und Österreich bis hin zu dem, was Nagelsmann bis heute aus dieser Mannschaft und diese Mannschaft für die Akzeptanz der Nationalelf bei den Fans gemacht hat.

Das Barthaar von Sandro Wagner

"Da hat man gemerkt, dass da was zusammenwächst in der Mannschaft, im Lande und die Euphorie war da und dass wir sehr weit kommen können", erzählt Rudi Völler nach dem Sieg im Eröffnungsspiel gegen Schottland und ein Fan ordnet dieses Zusammenwachsen nach dem Ausscheiden gegen Spanien so ein: "Am Ende schweißen auch Niederlagen zusammen und ich glaube schon, dass es ein Schritt im Prozess der Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft ist."

Und tatsächlich nimmt die Doku von Tom Häussler den Zuschauer mit hinein in diesen Prozess und es ist schön, dieses Zusammenwachsen zu beobachten. Dieses Bild, das da von einem Team und einem Land entsteht, kann selbst dieses eine graue Haar nicht zerstören, das da im Bart von Co-Trainer Sandro Wagner beim Interview quer nach oben steht und an dem man einfach nicht mehr vorbeisehen kann, wenn man es einmal bemerkt hat. Aber das ist ein Detail. Was von dieser Dokumentation bleibt, ist, dass sie die EM nicht auf diesen einen Moment, dieses Handspiel reduziert, weil sie eben auch die vielen anderen Momente zeigt.

"Ich erinnere mich jetzt nicht so oft an ein Finale, das ich gewonnen habe oder an eine Trophäe, die ich hochgehalten habe, sondern eher an so Momente, an Gefühle. Und ich glaube schon, dass ich mich auch an diese EM mit ganz, ganz schönen und tollen Gefühlen erinnern werde und deswegen bin ich stolz drauf, dass ich Teil dieser Mannschaft sein durfte", fasst Ilkay Gündogan am Ende der Doku seine Sicht auf die Heim-EM zusammen. Und wenn der Mannschaftskapitän in dieser EM mehr als nur dieses Handspiel in der 10. Minute sehen kann, dann sollten das alle anderen auch können.

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