Der Einsatz der Video-Assistenten bei der Frauen-WM in Frankreich funktioniert bislang gut, obwohl er für fast alle Schiedsrichterinnen Neuland ist. Auch die Transparenz ist vorbildlich. Deutliche Kritik gibt es dagegen an den ungewohnt rigorosen Eingriffen, wenn die Torhüterinnen beim Elfmeter knapp vor der Torlinie sind. Doch dieses allzu strenge Vorgehen ist von der Fifa gewollt.

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Auf den ersten Blick wirkt es paradox: eine Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen, bei der ausschließlich männliche Video-Assistenten (VAR) zum Einsatz kommen? Doch das wird erklärlich, wenn man weiß, dass die Fifa erst Mitte März entschieden hat, dass auch beim Turnier in Frankreich mit dem sogenannten Videobeweis gearbeitet wird.

Bislang gab es ihn nur bei Wettbewerben der Männer, und dort versehen nahezu ausschließlich Männer diese Tätigkeit. Eine Ausnahme ist die deutsche Bundesliga-Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus. Doch die wird bei der WM als Unparteiische auf dem Feld gebraucht.

Warum es bei der Frauen-WM nur männliche Video-Assistenten gibt

Die Zeit bis zum Turnierbeginn wäre schlicht zu knapp gewesen, um genügend Schiedsrichterinnen als VAR anzulernen. Deshalb beschloss die Fifa, auf männliche Referees zurückzugreifen, die bereits reichlich Erfahrung als Video-Assistenten gesammelt haben. Wie Felix Zwayer, Bastian Dankert und Sascha Stegemann, die in Frankreich eingesetzt werden.

Für die weitaus meisten WM-Schiedsrichterinnen auf dem Feld ist der Umgang mit dem VAR wiederum völliges Neuland. Doch das merkt man ihnen nicht an. Sie integrieren ihre Kollegen im Videokontrollraum so selbstverständlich in die Spielleitung und wickeln Reviews so sicher und zügig ab, als täten sie das schon seit Jahren. Das ist vor allem das Resultat einer guten Vorbereitung.

Bei knappen Abseitssituationen bleibt die Fahne zunächst unten

Auch die Assistentinnen an der Seitenlinie haben eine spezielle Anweisung, die mit dem Einsatz von Video-Assistenten einhergeht, problemlos verinnerlicht: Bei knappen Abseitssituationen in torgefährlichen Situationen warten sie wie vorgesehen mit dem Fahnenzeichen, bis der Angriff beendet ist oder der Ball im Tor liegt.

Denn nur so kann der VAR im Falle einer Torerzielung überprüfen, ob tatsächlich ein strafbares Abseits vorlag. Wird die Fahne dagegen sofort gehoben und unterbricht die Unparteiische daraufhin das Spiel, ist keine Überprüfung möglich. Eine falsche Abseitsentscheidung bei einem aussichtsreichen Angriff wäre nicht zu korrigieren, die Torchance wäre unwiederbringlich dahin.

Bessere Transparenz beim Videobeweis als in der Bundesliga

Auffällig ist - wie schon bei der WM der Männer vor einem Jahr - die gute Transparenz bei Entscheidungen, die einen Eingriff des Video-Assistenten zur Folge haben. In den Stadien lässt sich ein Review auf der Videowand verfolgen, die Fernsehzuschauer bekommen exakt die gleichen Bilder zu sehen wie die Schiedsrichterin im selben Moment auf dem Monitor am Spielfeldrand.

Darüber hinaus gibt es eine Texteinblendung, der man entnehmen kann, was der Anlass für die Überprüfung ist. In der Bundesliga müssen sich sowohl die Stadionbesucher als auch die Zuschauer an den TV-Geräten mit weniger zufriedengeben, was immer wieder für Kritik sorgt.

Das hat mehrere Gründe: Bei Weltmeisterschaften hat die Fifa die Kontrolle über die Videowände und wählt selbst aus, was dort gezeigt wird. In der Bundesliga dagegen liegt die Hoheit über die Anzeigetafeln bei den Klubs, nicht bei der DFL oder dem DFB. Hinzu kommt, dass nicht alle Videowände die technischen Voraussetzungen erfüllen, um die Review-Bilder in der erforderlichen Qualität zu zeigen.

Kritikpunkt: Strenge bei verschossenen Elfmetern

Doch es gibt auch bei der WM mancherlei Kritik an den Video-Assistenten, vor allem an ihren Eingriffen bei verschossenen Strafstößen. Bereits dreimal - nämlich in den Partien Jamaika - Italien (0:5), Nigeria - Frankreich (0:1) und Schottland - Argentinien (3:3) - intervenierten sie, obwohl die Torhüterinnen sich im Moment des Schusses nur wenige Zentimeter vor der Torlinie befanden.

Es gab jeweils eine Wiederholung des Elfmeters und die - in diesem Fall als zwingend vorgeschriebene - Gelbe Karte für die Torfrau. Diese Strenge ist außergewöhnlich und ungewohnt, bislang hatten die Unparteiischen und die Video-Assistenten großzügig darüber hinweggesehen, wenn die Torleute bei der Ausführung die Torlinie ein Stück nach vorne verließen.

Dass das nun anders ist, liegt daran, dass die Fifa die Schiedsrichterinnen und die Video-Assistenten angewiesen hat, beim Turnier besonders genau hinzusehen und strikt zu sein. Seit dem 1. Juni gilt, dass die Torhüterinnen und Torhüter beim Elfmeter nur noch mit einem Fuß auf der Torlinie bleiben müssen und mit dem anderen einen Schritt nach vorne tun dürfen. Die Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) wollten ihnen damit eigentlich entgegenkommen.

Bürokratische und praxisferne Auslegung

Doch die penible Auslegung bei der WM hat die Lockerung letztlich zu einer Verschärfung werden lassen, wenn der Strafstoß verschossen wird: Befindet sich auch das zweite Bein der Torhüterin vor der Linie, und sei es nur geringfügig, greift der Video-Assistent ein. Diese buchstabengetreue Auslegung ist extrem hart, bürokratisch und praxisfern.

Für die Torhüterinnen wird es nun noch schwieriger, den Ball abzuwehren, dabei liegt die Trefferquote bei Elfmetern bereits jetzt bei 70 bis 80 Prozent. Die Akzeptanz dieser rigorosen Überwachung ist bislang gering, und das absurde Szenario, dass eine Torhüterin bei einem Elfmeterschießen mit Gelb-Rot vom Platz geschickt wird, weil sie zweimal um Zentimeter vor der Linie war, ist nicht einmal besonders unwahrscheinlich.

Die Fifa bringt die Video-Assistenten ohne Not in Misskredit

Das kann nicht im Sinne des Fußballs sein. Auch wenn die Regeln bei der Strafstoßausführung eigentlich keinen Spielraum vorsehen, wollte kaum jemand an der bisherigen liberalen, akzeptierten und funktionierenden Praxis der Referees etwas ändern. Das hat die Fifa nun getan und damit ohne Not für massive Kritik gesorgt.

Damit geraten auch die Video-Assistenten wieder einmal in Misskredit, obwohl sie für die Situation gar nichts können. Schließlich setzen sie, genau wie die Schiedsrichterinnen, lediglich um, wozu sie verpflichtet worden sind. Auf ihr Ermessen kommt es in diesem Fall nicht mehr an. Und das ist bedauerlich.

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